Dass die österreichische Gesellschaft in den Jahrzehnten nach dem Ende der nationalsozialistischen Verbrechen ihrer eigenen Beteiligung daran vor allem durch eine konsequente Tabuisierung des Themas begegnete, ist bekannt. Was dabei bisher allerdings immer übersehen wurde, ist jene kleine zeitliche Nische in der langen Geschichte der Verdrängung, in der österreichische Gerichte NS-Täter mit einer Konsequenz ausforschten und verurteilten, die danach bekanntermaßen völlig versiegte.

Die Orte dieser frühen Vergangenheitsbewältigung waren die so genannten Volksgerichte, die man zwischen 1945 und 1955 zur Verfolgung von NS-Verbrechen eingerichtet hatte. Bis zu ihrer Auflösung wurden an ihnen zu fast 140.000 Fällen gerichtliche Voruntersuchungen wegen des Verdachts nationalsozialistischer Verbrechen oder illegaler Mitgliedschaft bei der NSDAP zwischen 1933 und 1938 eingeleitet. Rund 2000 Personen wurden wegen nationalsozialistischer Gewaltverbrechen verurteilt, 43 davon zum Tode, 29 zu lebenslänglichem Kerker.

Um diesen bisher wenig erforschten Aspekt der österreichischen (Rechts-)Geschichte genauer zu beleuchten, wurde das vom Wissenschaftsfonds finanzierte Projektpaket "Justiz und NS-Gewaltverbrechen in Österreich" ins Leben gerufen. Dabei sollen in drei Teilprojekten unter der Leitung von Winfried Garscha, Martin Polaschek und Thomas Albrich jene bisher fehlenden empirischen Daten erarbeitet werden, die eine Erfassung regionaler Besonderheiten in der Nachkriegsjustiz bis 1955 und darüber hinaus sowie einen Vergleich zwischen Deutschland und Österreich erlauben.

Bereits ein Jahr nach Projektbeginn können die Forscher höchst überraschende Ergebnisse präsentieren: So fand etwa der mit den Gerichtssprengeln Wien und Linz befasste Historiker Winfried Garscha vom Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstands heraus, dass bei einigen Tatbeständen die österreichischen Volksgerichte beträchtlich mehr NS-Verbrechen ahndeten als deutsche Gerichte. Während etwa in zwei vergleichbaren bayrischen Regierungsbezirken zwischen 1945 und 1955 lediglich 15 Verfahren wegen NS-Tötungsverbrechen mit Urteil abgeschlossen wurden, konnten im selben Zeitraum 120 derartige Verfahren im Zuständigkeitsbereich des Volksgerichts Linz (zuständig für Oberösterreich und Salzburg) erhoben werden. Wobei sich die höhere Zahl an Prozessen wegen Kriegsverbrechen in Österreich allerdings vor allem dadurch erklärt, dass die US-amerikanischen Militärgerichte in Deutschland fast alle derartigen Verfahren an sich zogen, während die Military Commission in Salzburg bis 1948 nur 16 Prozesse führte.

Bereits drei Jahre nach Kriegsende war die Zeit der großen Prozesse an den österreichischen Volksgerichten allerdings auch schon wieder vorbei. "Nach 1948 wurden dort fast nur noch kleine Fische verurteilt. Immerhin waren die Volksgerichte ja nicht nur für die Verfolgung der 'echten' Kriegsverbrecher zuständig, sondern auch für die Aburteilung der Formaldelikte wie etwa die Strafverfolgung der 'Illegalen'", erklärt der Rechtshistoriker Martin Polaschek, der sich gemeinsam mit dem Grazer Historiker Heimo Halbrainer im Rahmen seines Teilprojekts mit dem für die Steiermark und Kärnten zuständigen Gerichtssprengel Graz beschäftigt.

Aus diesem Grund kam es auch bald zu einem Schwenk in der öffentlichen Meinung: Über die ersten Kriegsverbrecherverfahren berichteten die Medien noch positiv, die Verurteilten wurden als Verbrecher geschildert, die ihrer gerechten Strafe zugeführt werden. Spätestens 1948 wird die gerichtliche Verfolgung von NS-Verbrechen aber schon infrage gestellt, die Täter werden zunehmend als Opfer dargestellt.

"Die Opferthese", erklärt Polaschek, "wurde in Österreich schon früh sehr massiv vertreten." Einen offiziellen Anstrich bekam sie durch die Moskauer Deklaration, in der Österreich als erstes Opfer Nazi-Deutschlands bezeichnet wird.

Dass die konsequente Verfolgung von NS-Verbrechen nach so kurzer Zeit schon einem ebenso konsequenten Verdrängungsbedürfnis wich, hatte nicht zuletzt auch mit dem Buhlen aller drei Parteien - der ÖVP, der SPÖ und der KPÖ - um das nationalsozialistische Wählerlager zu tun: So stießen die Forscher auf Akten eines Kreisleiters aus der Oststeiermark, der 1945 verhaftet und drei Jahre später abgeurteilt wurde. "Zur Urteilsverkündung brachte der Mann Bestätigungen von den Bezirksleitungen der ÖVP, der SPÖ und der KPÖ, dass er ein absolut verantwortungsbewusster Mensch sei, der nie etwas Unrechtes getan habe", berichtet Martin Polaschek. Der ehemalige Kreisleiter bekam eine mehrjährige Haftstrafe, wurde aber sehr bald bedingt freigelassen. Eine Vorgehensweise, die für den juristischen Umgang mit NS-Verbrechen in Österreich bis in die 1970er-Jahre hinein symptomatisch blieb.

War Österreich kurz nach dem Krieg bei der Ahndung von NS-Verbrechen zumindest in Teilbereichen noch geradezu vorbildlich, fand die juristische Vergangenheitsbewältigung ab Mitte der 1950er-Jahre auf einem zunehmend beschämenden Niveau statt: So wurden in der BRD von den seit 1956 angeklagten Personen 74 Prozent - in der DDR waren es überhaupt 100 Prozent - rechtskräftig verurteilt, in Österreich jedoch nicht mehr als 40 Prozent. Zudem werden von der deutschen Justiz noch immer Prozesse gegen mutmaßliche NS-Täter durchgeführt. Österreich dagegen erhob bis auf die Anklage gegen Heinrich Gross vor vier Jahren seit 1972 keine Anklage mehr wegen NS-Verbrechen. Das letzte Urteil - bezeichnenderweise ein Freispruch - wurde 1975 im Fall des KZ-Wächters Johann Vinzenz Gogl gesprochen.

Den 34 österreichischen Prozessen, die seit 1956 mit Urteil oder gerichtlicher Verfahrenseinstellung abgeschlossen wurden, stehen im selben Zeitraum in Deutschland 484 Prozesse gegenüber, wie Winfried Garscha bei vergleichenden Aktenanalysen der beiden Staaten herausfand. Angepasst an die jeweilige Einwohnerzahl zu Beginn der 1970er-Jahre kommen somit auf zwei österreichische fast 3,6 bundesdeutsche Verfahren. (Doris Griesser/DER STANDARD, Print-Ausgabe, 10./11. 1. 2004)