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Sieht aus wie Superman in Zivil Clark Kent, soll Ähnliches bewirken: Neuer New Yorker Börsenchef John Thain (re.), mit Interimschef John Reed.

REUTERS/PETER MORGAN
New York - John Thain, der ehemalige Investmentbanker und designierte Chef der skandalgeplagten New York Stock Exchange (NYSE), steht vor keiner leichter Aufgabe. Schon rein äußerlich wirkt er wie ein Kontrastprogramm zu seinem Vorgänger. Der glatzköpfige Richard Grasso war ein schillernder Showman, der die NYSE ohne Studienabschluss und mit hemdsärmeligen Methoden leitete.

Sein Nachfolger Thain ist eine unauffällige Erscheinung mit geschniegeltem Seitenscheitel und randloser Brille, das mustergültige Exemplar eines Topmanagers: Ein MIT- und ein Harvard-Diplom zieren seinen Lebenslauf. Der neue Mann an der Spitze gilt als analytisch, detailversessen und integer.

All das wird er dringend brauchen, wenn er Mitte Jänner den Chefsessel im Säulentempel der NYSE einnimmt. "Die New Yorker Börse", so der Wall-Street-Historiker Charles Geisst, "steht vor den dramatischsten Umwälzungen seit der großen Depression 1933."

Überfällige technische Neuerungen

Da sind vor allem die längst überfälligen technischen Neuerungen. Während an anderen Börsen Angebot und Nachfrage längst von Computerprogrammen abgeglichen werden, geht es an der NYSE immer noch zu wie auf dem Pferdemarkt.

Mehr als die Hälfte der Orders werden über menschliche Händler abgewickelt: Will ein Floor-Broker Aktien an- oder verkaufen, muss er quer über das Parkett zu einem der 20 Handelskioske laufen, um dem dort zuständigen "Specialist" (oft mit lautem Rufen und wilden Gesten) einen Auftrag zu geben. Der Specialist soll dann Käufer und Verkäufer zusammenführen. Gelingt ihm das nicht, greift er auf eigene Rechnung ein, um einen liquiden Handel zu sichern: Er wirft Aktienpakete auf den Markt oder kauft Stücke in sein eigenes Depot.

Den Modernisten an der Wall Street ist das veraltete System schon lange ein Dorn im Auge, haben sie doch mit ansehen müssen, wie der Marktanteil beim Handel mit NYSE-geführten Aktien schon seit Jahren bei 81 Prozent stagniert, und dass die Anleger immer mehr Order schnell, billig und zuverlässig über elektronische Plattformen (wie Instinet und Bloomberg) oder gänzlich virtuelle Börsen (wie die neue Archipelago Exchange) abwickeln.

Betrugsrisiko

Einschneidender ist allerdings: Das von Kursmaklern kontrollierte Auktionsmodell ist nun ins Visier der US-Börsenaufsicht SEC geraten. Die Behörde ermittelt derzeit gegen fünf Firmen, deren Specialists Transaktionen offenbar nicht zum bestmöglichen Preis ausgeführt und so mindestens 155 Mio. Dollar in die eigenen Taschen gewirtschaftet haben. Der NYSE droht eine Klage wegen Verletzung der Aufsichtspflicht.

Thain will wenigstens einen Teil der 443 Specialists durch Computer ersetzen. Die Technologiefrage ist jedoch nicht seine einzige Herausforde rung. Seit dem Skandal um seinen Vorgänger Grasso, der sich von einem selbst ernannten Aufsichtsrat Vergütungspakete über 187,5 Mio. Dollar zusichern ließ und darum im September zurücktreten musste, geht die NYSE durch eine tiefe Strukturkrise.

Einige organisatorische Neuerungen hat bereits Interimschef John Reed eingeleitet. Um Entscheidungen transparenter zu machen, wurde das 27-köpfige Board durch ein achtköpfiges ersetzt. Um Ethikskandale zu vermeiden, soll die Macht künftig aufgeteilt werden: Thain wird Hand in Hand mit einem noch nicht ernannten Chairman arbeiten. All das geht Kritikern nicht weit genug. Sie beanstanden, dass Aufsichts- und Geschäftsfunktionen der NYSE nicht getrennt sind und dass auch das neue Board ein Insiderklub ist, der keinen Platz für die Repräsentanz der öffentlichen Investoren lässt. Auch Thain, zuletzt Nummer zwei bei der Investmentbank Goldman Sachs, ist nicht gerade Außenseiter: Er besitzt 3,2 Mio. Aktien seines Exarbeitgebers.

Für ihn spricht allerdings, dass er seinen neuen Job sicher nicht des Geldes wegen angenommen hat: Als Chef der NYSE wird Thain vier Millionen Dollar pro Jahr verdienen – noch nicht einmal halb so viel wie in seiner vorigen Position. Und auch erheblich weniger als sein Vorgänger Richard Grasso, dessen Bezüge sich seit Amtsantritt zuletzt auf 30 Millionen Dollar im Jahr verfünfzehnfacht (!) hatten. (DER STANDARD Printausgabe, 13.01.2004, Beatrice Uerlings)