Die Schiiten im Irak haben den Besatzungsmächten mit offener Konfrontation gedroht, falls ihre Forderung nach Abhaltung allgemeiner Wahlen noch in diesem Jahr ignoriert wird.

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Im Irak ist wieder einmal Krisenmanagement angesagt. Der geistige Führer der schiitischen Bevölkerungsmehrheit, Großayatollah Ali Sistani, droht, den derzeit gültigen Plan für die Übertragung der Souveränität an die Iraker am 1. Juli zu boykottieren. Die Essenz seines beharrlichen Einwandes: Die Übergangsregierung, die zur Jahresmitte die US-geführte Besatzungsverwaltung ablösen soll, geht aus keiner allgemeinen Wahl, sondern aus einem komplizierten, wenig transparenten Auswahlverfahren hervor.

Die Hoffnungen ruhen nun auf einem Spitzentreffen am Montag am UNO-Sitz in New York. UNO-Generalsekretär Kofi Annan wird eine Delegation des provisorischen Regierungsrates empfangen. US-Zivilverwalter Paul Bremer ist bereits zu Konsultationen- in Washington. Sistani hat durchblicken lassen, dass er eine Art Schiedsrichterrolle der UNO akzeptieren würde.

Sistani, der zurückgezogen im den Schiiten heiligen Najaf lebt, kommuniziert lediglich durch schriftliche Stellungnahmen und Botschaften, die er ausgewählten Besuchern mitgibt. Die meisten der 60 Prozent Schiiten im Land betrachten ihn als unumstößliche Autorität. Der im Iran geborene Kleriker hatte seine Gläubigen dazu aufgerufen, die Amerikaner nicht anzugreifen und mit ihnen vorläufig zu kooperieren. Damit hielt er ihnen im Süden den Rücken frei, was ihnen dabei hilft, den Aufstand der Sunniten nördlich und westlich von Bagdad zu bekämpfen.

Mit der immer deutlicheren Forderung nach allgemeinen Wahlen vor dem 1. Juli wird Sistani nun zum Problem. Mindestens 20.000 Schiiten demonstrierten am Donnerstag in Basra. Sie skandierten die Losung "Sistani, ja! Selektion, nein!" Der Sistani-Vertraute Mohammed Bakr al- Mahri drohte am Freitag mit einer Fatwa seines Meisters, die zum Boykott aller künftigen nicht gewählten Institutionen auffordern werde. Damit könnte das Land für die Übergangsorgane unregierbar werden.

Sowohl Bremer als auch der Regierungsrat lehnen direkte Wahlen vor dem 1. Juli ab. Es fehle an der nötigen Infrastruktur und Sicherheit. Die USA taten allerdings in den neun Monaten ihrer Besatzung nichts, um eine solche zu schaffen. Auch etliche Regierungsratsmitglieder verfügen über durchsichtige Motive: Im Sog der US-Invasion aus dem Exil zurückgekehrt und ohne Rückhalt in der Bevölkerung sind ihre Chancen, gewählt zu werden, minimal.

"Harte Wahl"

Der amtierende Regierungsratsvorsitzende Adnan Pachachi, ein liberaler Politiker aus der Vor-Saddam-Zeit, meinte am Donnerstag: "Wir stehen vor einer harten Wahl: Entweder wir ziehen den Auswahlmechanismus durch und sind am 1. Juli souverän, oder wir verwerfen ihn und bleiben zwei weitere Jahre okkupiert." Pachachi, der einzige Exilpolitiker, der über ein gewisses Ansehen verfügt, hat Sistani am letzten Wochenende in Najaf besucht. Man gelangt zur Übereinstimmung, dass es im gegenwärtigen Plan für den Machttransfer "Spielraum für Nachbesserungen" gibt. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 17./18.1.2004)