Ein Orakel, das das Thema einer hier publizierten Kommentarserie wieder aufnimmt und diese zugleich weiterschreibt.


Ich sehe einen großen Krieg.
Ich sehe Millionen Menschen zugrunde gehen aufgrund einer Logik, die deshalb entmenscht ist, weil sie die Bedürfnisse der von den Menschen produzierten Verhältnisse wichtiger nimmt als die Bedürfnisse der produzierenden Menschen selbst. Die Bedürfnisse "der Verhältnisse" sind komplex, die der Menschen simpel. Oder umgekehrt. Liegt darin das Problem? Elend und Vernichtung jedenfalls beginnt unscheinbar in dem Moment, da man Begriffen wie "Systemlogik", "Marktlogik" oder "Sachzwänge" ernstlich und ausschließlich zu gehorchen versucht.

Ich sehe, wie dies passiert.
Aus dem Unscheinbaren wird Scheinbares, dann mit mörderischer Konsequenz Wirkliches. Und dann sehe ich die Konsequenzen, die aus den Erfahrungen mit diesem Krieg und der Entwicklung, die zu diesem Krieg geführt hat, gezogen werden. Es sind keine "richtigen" Konsequenzen, weil sie nicht wirklich konsequent sind, nicht so konsequent wie der Geschichtsverlauf zuvor, aber es sind auch keine "falschen", weil sie zwar nur das Minimum, aber doch das Minimum der richtigen Konsequenzen darstellen:

Das, was geschehen ist, soll wieder einmal nie wieder geschehen können! Auf der ganzen Welt denken die besten Köpfe darüber nach, wie dies bewerkstelligt werden könne. Ich sehe sie vor mir, kann lesen, was sie vorschlagen – nichts, was zuvor unantastbar schien, bis es in die Katastrophe führte, scheint nun heilig, deshalb werden wir diese Zeit als heilig bezeichnen müssen! Sogar in den USA wird die zumindest partielle Einführung der Planwirtschaft diskutiert, ein "Thinktank" gegründet, dem sieben Ökonomen aus Harvard und Tufts angehören, um eine neue "Bill of rights" auszuarbeiten. Dieser Thinktank nennt sich "National Resources Planning Board" (trägt also den Begriff "Planung" bereits im Namen) und erklärt in der Präambel seiner ersten Stellungnahme: "Das alte Ideal des Laissez-faire kann nicht länger gewährt werden. Es wird in immer höherem Maße irgendeine Art von Planung und Kontrolle geben müssen."

Ohne Revolution werden Begriffe wie Umverteilung, soziale Gerechtigkeit, Vollbeschäftigung, Wohlfahrt und sogar Grundsicherung zu selbstverständlichen Parametern der Politik, die Einsicht in die Notwendigkeit von Entwicklungshilfe wird so selbstverständlich wie das morgendliche Zähneputzen der Menschen in den Industriestaaten. Die schrittweise politische Herstellung globaler ausgleichender Gerechtigkeit wird "nationale Priorität" in so vielen Staaten, dass der Begriff "national" zu versickern beginnt. Ich sehe, wie große internationale und übernationale Institutionen entstehen, die diese Entwicklung sozial-, wirtschafts-, währungs- und handelspolitisch abzusichern und planmäßig weiterzutreiben versprechen.

Ich fantasiere nicht. Diesen Krieg hat es gegeben. Wir alle haben nach diesem Krieg gelebt. Die Konsequenzen, die aus diesem Krieg gezogen wurden, sind wirklich gezogen worden. Alle Chancen, die wir in unserem Leben gehabt haben, so wir welche hatten, sind diesen Konsequenzen zu verdanken. Aber jetzt hat sich jener Nebel der Geschichte darüber gelegt, den wir sofort als Rauchschwaden eines Zukunftsorakels interpretieren wollen: Das Gewesene, das in diesem Nebel verschwindet, erscheint uns nun als unklare Kontur einer sich abzeichnenden Zukunft. Der Satz, dass die Zukunft auch nicht mehr ist, was sie einmal war, etwas Lichtvolles, etwas Erstrebenswertes, ist genauso richtig wie das Gegenteil: Die Zukunft ist, was einmal war. Nicht befreiend, sondern befreit von den Lehren, die schon einmal gezogen waren.

Stellen wir uns vor, Anfang der 30er-Jahre des 20. Jahrhunderts hätten selbst Anti^faschisten gesagt, "Der Faschismus ist unaufhaltsam, die Entwicklung geht mächtig und eindeutig in diese Richtung. Unsere Aufgabe ist es daher, diese Entwicklung mitzutragen und uns für diese Zukunft fit zu machen!" – würden wir heute diesen "Pragmatismus" (der doch zweifellos "Recht hatte") bewundern, oder nicht vielmehr diese Willfährigkeit verachten?

Die Antwort ist: In Sonntagsreden verachten, in der Praxis nacheifern! Alle Errungenschaften der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts werden abgebaut, zerstört, preisgegeben oder in ihr Gegenteil verkehrt – weil eine unaufhaltsame, machtvolle "Entwicklung" es so will. Als "Führungsmacht", als wegweisend, gilt nicht der weitest entwickelte Sozialstaat, nicht der Kontinent der sich vereinigenden Wohlfahrtsstaaten, sondern die Nation mit den höchstentwickelten Waffensystemen.

iese Rückkehr in die Vorkriegsordnung wird als "Ende der Nachkriegsordnung" gefeiert. Alleine diese Formulierung zeigt, wie alle Selbstreflexion in Europa ästhetisch zur Lüge, moralisch zur Heuchelei wurde. Die Uniformierung des allgemeinen Bewusstseins, die in Militäruniformen enden wird, ist so weit fortgeschritten, dass sogar jene, die diese Situation beschreiben, gleich als Befürworter dieser Situation gelesen werden. Ja, ja, so ist es, es kann nicht anders sein. Es muss gespart werden – sagen die Reichen. Es soll Wachstum produziert werden – durch Kürzungen. Und wie das bewerkstelligt wird, ist die Produktion von Dummheit mit der technischen Intelligenz als Mittel.

Nur politisch völlig ahnungslose Fantasten, also nur Propheten sehen nicht, wohin das führen wird: Alle, die heute mitmachen, werden dereinst wieder mitmachen, wenn es heißt: "Dies soll nie wieder geschehen dürfen!" Auch und erst recht in Österreich, nur hier mit besonderer Unschuld: Das letzte Mal war Österreich unschuldig, weil der Staat nicht existiert hat – als hätten die Österreicher nicht existiert. Heute hat Österreich alle konstitutiven Elemente der staatlichen Souveränität abgegeben, sodass ein souveräner Staat Österreich, streng staatsrechtlich gesehen, gar nicht mehr existiert. Allerdings merkt das noch keiner, solange Österreicher als Österreicher existieren. Aber kein Zweifel: Man wird auf das Nicht-existiert-Haben zurückkommen.

Und was die Reputation Österreichs in der Welt betrifft: kein Problem – solange Austria mit Australia verwechselt wird!


Am Anfang stand Robert Menasses Friedpreisrede in Form einer Selbstbefragung ("Wie kann man heute noch über Alternativen reden, wo es keine mehr zu geben scheint?", 29. 11. '03); an der Suche nach Antworten beteiligten sich in der Folge Wolfgang Müller-Funk, Karl-Markus Gauß, Alfred Pfabigan und Konrad Paul Liessmann. (DER STANDARD, Printausgabe vom 17./18.1.2004)