Ich ignorierte ihn. So wie alle anderen Leute, die am Mittwoch gegen Mittag in der U1 saßen und in Richtung Favoriten gondelten. Als sich der Mann neben mich setzte, blickte ich nicht auf. Zwei Stationen saß er still und schwankend da – dann begann er zu sprechen: „Verkauf mir was“, lallte er. Niemand reagierte. „Verkauf mir was.“ Dabei griff er dem ihm gegenüber sitzenden Mann aufs Knie: „Ich will was, hast du gehört?“ Ich schaute auf. So wie alle in Hörweite.
„Piss Off!“
Der, dem der Junkie aufs Knie gegriffen hatte, saß versteinert da. Er war Mitte 30, trug einen tadellos sitzenden Anzug und einen teuer aussehenden Mantel. Auf den Knien hatte er einen schlanken, eleganten Aktenkoffer. Seine Schuhe waren frisch geputzt. Seine Hand war zur Faust geballt. Er wischte die Hand des Süchtigen von seinem Knie: „Piss off“, pfauchte er – und weiter auf deutsch: „ich habe nichts mit Drogen zu tun.“ Wortlos stand der Junkie auf und setzte seine Tour fort: „Ein paar Euro für was zu essen?“
Der Mann mit dem Aktenkoffer wandte sein Gesicht zum Fenster. So als gäbe es im Tunnel etwas Spannendes zu sehen. Nur das Pulsieren an seinem Hals verriet, dass er nicht total entspannt war. „Siehst du“, sagte eine Frau, „siehst du, es gibt auch brave Neger.“ Dabei zeigte sie – nur für den Fall, dass ihre Tochter nicht ohnehin wissen sollte, dass es um den schwarzen Mann ging – mit dem Finger herüber. Im Gesicht des „braven Negers“ arbeitet es. Seine Hände schlossen sich um den Griff des Aktenkoffers. Er sagte nichts. Ich auch nicht.
Zivilcourage
Später, am Reumannplatz, kamen zwei Schülerinnen zu ihm. Sie entschuldigten sich. Weil sie der Frau nicht über den Mund gefahren seien. Und weil ihnen auch die Sache mit dem Junkie leid täte. Ich stellte mich dazu. Schließlich kostete es nichts, jetzt, wo alles vorbei war, Zivilcourage zu simulieren. Der schwarze Mann lächelte: Das sei sehr nett von uns. Und es tue gut zu wissen, dass nicht alle Leute in dieser Stadt alle afrikanisch aussehenden Männer in der U-Bahn automatisch für Dealer hielten. An manche Dinge, meinte er, könne und wolle er sich nämlich nicht gewöhnen. Deshalb fahre er in Wien so selten wie möglich mit der U-Bahn. Nur lasse sich das halt nie ganz vermeiden.
Er komme, erzählte er uns, alle paar Wochen nach Wien. Eine schöne Stadt, sagte der schwarze Mann. Eine schöne Stadt. Er – EU-Bürger, in Holland aufgewachsen, und im mittleren Managment eines französischen Konzerns tätig - habe sogar überlegt, nach Wien zu ziehen. Aber das - er zeigte mit dem Kopf in Richtung U-Bahn-Aufgang - wolle er seinen Kindern nicht zumuten. Die Junkies?, fragte eine der Schülerinnen. Auch, sagte der schwarze Mann, aber vor allem die Blicke. Auf der Straße, sagte er, sei ja alles fast normal. Aber sobald er in der U-Bahn sei, gäbe es kaum jemanden, in dessen Blick er nicht den Pauschalverdacht spüre. Manchmal würde er blöd angeredet. Und so häufig, wie er in Wien in den letzten beiden Jahren von der Polizei – zwar immer höflich, aber doch eindeutig wegen seiner Hautfarbe, betonte der schwarze Mann - kontrolliert worden sei, sei er zuvor insgesamt in seinem ganzen Leben nicht angehalten worden.
Das Schuldgefühl
Die Schülerinnen mussten weiter. Der schwarze Mann und ich hatten für kurze Zeit noch den gleichen Weg. Als wir uns voneinander verabschiedeten, nahm er mich am Arm. Das Allerschlimmste, sagte er, habe er vor den netten Teenagern nicht ansprechen wollen. Er selbst, sagte der schwarze Mann, habe auch Deals in der U-Bahn gesehen. Das sei ja nicht weiter schwer. Öfter als einmal sei einer der Beteiligten dunkler Hautfarbe gewesen. Manchmal – nur in Wien – bemerke er, dass er sich beim Anblick schwarzer männlicher Jugendlicher in der U-Bahn auch frage, ob die jetzt nicht vielleicht doch ... Der Gedanke, sagte der schwarze Mann, verursache ihm Übelkeit. Weil er doch nicht nur wisse, sondern fast bei jeder Fahrt mit der Wiener U-Bahn erlebe, wie verletzend diese Pauschal- und Vorurteile sind.