Wien – Auf den ersten, flüchtigen Blick steht dem Wiener Hofbeamten Franz Grillparzer der griechische Humanitätsfaltenwurf gar nicht gut. Von Goethes Iphigenie, diesem feinen Hemd aus lauter Moralsentenzen, trennt sein dreiteiliges dramatisches Gedicht Das goldene Vließ der grobe Schnitt, das raue Tuch.
In einem Dritte-Welt-Landstrich namens Kolchis, wo ein schwacher König eine zauberische Tochter hat, tauchen in schöner Regelmäßigkeit griechische Zivilisationsbeglücker auf. Der erste, Phryxus mit Namen, führt das verruchte Vließ im Gepäck. Es wird ihm bei Gelegenheit seiner Ermordung entwendet. Wiederum vergehen einige Jahre, bis die berühmten Argonauten, voran ein Raufbold namens Jason, an Kolchis' Klippen stranden, das Fell entführen und, einer vorübergehenden erotischen Reizung wegen, die Königstochter wie ein Spielzeug mit sich fortschleppen.
Ab nun schreibt Grillparzer ein Migrantendrama: Als säße er, zum Eingang des neuen Jahrtausends, auf keinem Beamtensessel mehr. Sondern auf einem ethnischen Beobachtungshorchposten im Hafenbecken von, zum Beispiel, Marseille.
Probierstufen
Die gerade 26 Jahre zählende Burg-Schauspielerin Birgit Minichmayr, die ab Freitag die Medea in einer Strichfassung des Vließes am Wiener Burgtheater gibt (Regie: Stephan Kimmig), verzieht den Mund zu einer Trotzmaske. Sie erzählt von ihren Probevorbereitungen für Medea, der dritten Abteilung in Grillparzers Gedicht. Sie schmeckt verstehend nach und kostet probierend vor: "Grillparzer trifft ganz toll die Archaik und das Moderne. Wenn man das zusammenfügt, ergibt sich Zeitlosigkeit."
Ihre nächste Migrationsstation führt sie ab kommenden Herbst nach Berlin, an Frank Castorfs Volksbühne. Jetzt durchmisst sie in gerade drei Stunden den tiefen Fall eines Naturkindes, das sich auf die Kraft der Steine und der Pflanzen versteht (Minichmayr: "Ich selbst interessiere mich ja nicht für Esoterik! Dabei ist meine Mutter Homöopathin") und sich plötzlich, an Jasons Seite nach Korinth gespült, einer Horde von Humanitätssonntagsrednern gegenübersieht. Für die landfremde Medea, den Störenfried aus einer anderen Weltordnung, ist kein Durchkommen mehr möglich.
Die atemberaubende Kraft der Minichmayr, Absolventin des Reinhardt-Seminars, wo sie unter die Fittiche von Klaus Maria Brandauer geriet, fällt heraus aus allen modischen Glamourbezügen. Sie erzählt ohne jede Scham, dass man sie anlässlich eines Filmcastings einmal das "mollige Mädchen" genannt habe.
Das ist nicht nur falsch und dumm – es tangiert sie nicht: "Heutige Mädchen stehen eben unter dem Modediktat des Schlankheitswahns." Sie erzählt lieber ungerührt, dass sie der Haltbarkeit von Begriffen wie "Treue", "Beziehung" oder "Familie" nachsinne. Minichmayr bohrt von allen Brettern nur die dicksten.
Sie sagt: "Wenn es heißt, die Theater stecken in der Krise: Vielleicht ist es auch gut so. Vielleicht muss einem die Ernsthaftigkeit dieses Metiers wieder bewusst gemacht werden. Es ist doch ein ungeheures Privileg, an einem Theater zu arbeiten." Sie klingt plötzlich wie die kleine Schwester der großen Andrea Breth.
Dem sehr ernsthaften, so gar nicht spaßgesellschaftlichen Regisseur Kimmig habe sie auf der Probe ihre Tagträume erzählt. Minichmayr schöpft immer aus dem Vollen. Sie kleistert nichts und niemanden zu. Sie wuchtet und schleudert ihre Rollen wie Magma aus sich heraus.
Entwicklungsschübe
Lauter punktgenau gezündete Feuer: Als Ophelia keucht und würgt sie den überschnappenden Wahnsinn wie einen Klumpen Unflat aus sich heraus. Als ordinär-wissender Gesellschaftsziervogel im "Abschiedssouper" röhrt sie mit rauem Brunftorgan den armseligen Anatol (Michael Maertens – er spielt diesmal den Jason) fast von der Bühne. Als Sängerin von Nina Hagens Mir ist heiß an einem ansonsten kreuzbraven Wittenbrink- Liederabend schien sie zu einem nekrophilen Liebesakt gemütserhitzt aufgelegt.
Und jetzt, bei Wahrung ihrer Spielverpflichtungen an der Burg, der Exodus nach Berlin: "Burg-Direktor Bachler hat sich überaus verständnisvoll gezeigt: Ich muss einfach einmal andere Luft schnappen." Frank Castorfs ostdeutsche Identitätspolitik könne sie nicht schrecken. Sie sei gespannt darauf, was sie dort oben lerne.
Die Linzerin Minichmayr betreibt Bühnenkunst als Abfolge von Drahtseilakten. Sie sagt: "Es muss doch möglich sein als Schauspielerin, sich kontinuierlich weiterzubilden. Literatur zu lesen, nicht immer nur das Stück, das gerade in Arbeit steht." Für Das goldene Vließ hat sie die Mythenfigur der "gottgeweihten" Diotima studiert. Als Grillparzer-Medea muss sie ihre eigenen Kinder ermorden. Und dann dieser Satz: "Sie tut es, weil ihr nichts anderes übrig bleibt. Weil sie ihre land- und rechtlosen Kinder im Tod am besten ,aufgehoben‘ weiß."