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Der deutsche Ex-Kanzler Helmut Kohl ist gegen ein "Europa der zwei Geschwindigkeiten" und übt scharfe Kritik an der Nicht-Einhaltung des Stabilitätspaktes.

Foto: Reuters/Steve Schaefer
Frankfurt am Main - Der frühere deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl hat sich gegen ein "Europa der zwei Geschwindigkeiten" ausgesprochen. Zugleich zeigte er sich überzeugt, dass es im Streit um die EU-Verfassung zu Kompromissen kommt. In einem am Donnerstag veröffentlichten Interview mit der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" forderte Kohl zugleich mehr Rücksichtnahme auf die kleineren EU-Staaten.

Einfluss hänge nicht nur von Demografie ab

"Wir müssen uns von der Vorstellung lösen, die Größe eines Landes müsse sich präzise im Anteil der Stimmen widerspiegeln", betonte der langjährige Kanzler. Der Einfluss eines Landes hänge von dessen Wirtschaft, Kultur und Ansehen ab, nicht nur von der Demografie. Kohl nannte es wichtig, in der EU vor allem nach der Erweiterung "die Kultur des Kompromisses" zu pflegen. Das schaffe Vertrauen. Vertrauen könne nicht befohlen werden, es müsse erworben werden. Deutschland sollte auf Grund seiner Lage im Zentrum Europas "eine Funktion der Mitte wahrnehmen".

"Wirkliche Schande"

Der frühere CDU-Kanzler warf seinem sozialdemokratischen Nachfolger Gerhard Schröder und dem grünen Außenminister Joschka Fischer vor, bei ihrer Europa-Politik von falschen Voraussetzungen auszugehen. Beide seien "völlig geschichtslos operierende Leute". Kohl nannte es "eine wirkliche Schande", dass ausgerechnet Deutschland den europäischen Stabilitätspakt nicht einhalte "und zu tricksen versucht". Damit werde bei den europäischen Nachbarn und in der Welt Vertrauen verspielt.

Die Schweiz und der Euro

Nach Ansicht des ehemaligen deutschen Regierungschefs arbeitet die Zeit jedoch "gegen die Bremser" in der EU. Kohl äußerte in dem Interview die Erwartung, "dass in nicht allzu ferner Zukunft in der Schweiz mit dem Euro gezahlt werden wird". Nach mehreren Volksabstimmungen werde sich dort die Erkenntnis durchsetzen, dass der Euro gut für die Schweiz sei. In zehn Jahren werde mit dem Euro ebenfalls in London gezahlt werden - "nicht weil die britische Politik das will, sondern weil die City vom Euro überzeugt ist".

Türkei erst, wenn alle Kriterien erfüllt

Zu der in Deutschland heftig umstrittenen Frage einer möglichen EU-Mitgliedschaft der Türkei verwies der Ex-Kanzler auf die Kriterien für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen: "Ich bin uneingeschränkt dagegen, Verhandlungen zu eröffnen, bevor die Kriterien erfüllt sind." Ankara müsse alle Kriterien erfüllen, auch im Hinblick auf die Religionsfreiheit. Diese Voraussetzungen für Beitrittsverhandlungen müssten in der Praxis tatsächlich gegeben sein. (APA)