Wie man ihn dreht und wendet, immer besticht der 69er der Wiener Bauordnung durch perfekte Passform. Die einen wenden ihn an, um sinnvollerweise Gründerzeitbauten mit außen gelegenen Liftanlagen nachrüsten zu lassen oder neuen Wohnraum zu schaffen. Die anderen argumentieren mit ihm, um Großprojekte (oft sogar in denkmal-oder naturgeschützter Umgebung) durchzubekommen. Da ist schnell von Willkür die Rede. Die einen können sich's halt richten, die anderen machen's ihnen recht.

Bau von Telekom im Arsenal

Jüngstes Beispiel einer beabsichtigten mehr als großzügigen Auslegung des Paragrafen Nummer 69 war der mit gestrigem Datum untersagte Bau von Telekom im Arsenal im dritten Bezirk (siehe Artikel unten). Vorerst schubladisiert wurde das Projekt eines Lipizzanerzentrums beim Schloss Schönbrunn. Der 69er hätte das Reitzentrum im kaiserlichen Fasangarten als "geringfügig" legitimieren sollen. Der Millenniums-Tower ist ein Musterbeispiel von Gesetzesinterpretation. Er konnte mit dem 69er auf 180 Meter statt der bewilligten rund 120 Meter anwachsen. Auch Familie Gürtler kam er zupass: Dachausbau am Sacher genehmigt.

Was den mittlerweile berühmt-berüchtigten Paragrafen so geschmeidig macht, ist die Formulierung der "geringfügigen Abweichung" - an sich ein vom Gesetzgeber gewollter Spielraum für die Beurteilung und spätere detaillierte Gestaltung von Bauvorhaben. Im Jahr 2003 wurden in Wien 677 solcher Verfahren der Bauordnung geführt.

Unwesentliche Abweichungen

Die zuständige Behörde entscheidet im jeweiligen Fall nach Antragstellung eines Bauwerbers, ob tatsächlich eine solche unwesentliche Abweichung vorliegt. Stuft die Rathausbehörde das Bauvorhaben als unwesentliche Abweichung ein, so entscheidet der Bauausschuss der Bezirksvertretung über den Antrag.

Zum Problem wird der Paragraf, wenn er zur Maximierung von Nutzflächen und Gebäudehöhen in sensiblen oder lukrativen Zonen missbraucht wird. Wenn Präzedenzfälle bemüht werden, um das eigene Projekt durchzudrücken. Ganz zu schweigen vom - nie zugegebenen, aber faktisch vorhandenen - Druck auf Lokalbehörden, dem Vorhaben den Sanktus zu erteilen. Gemma auf ein Achterl, red' ma uns z'samm. So wird Politik gemacht, so wird gebaut.

Liberale Bauordnung Vor gut zehn Jahren war man bestrebt, die Bauordnung liberaler zu handhaben. Das hat unter anderem zu einem Bauboom auf Wiens Dächern geführt. "Das gelebte Recht unterliegt gewissen Interpretationsschwankungen", formuliert ein hoher Rathausbeamter. Nach den Turbulenzen um Wien-Mitte und dem drohenden Verlust des Welterbeprädikats ist man vorsichtiger geworden. Die Schwankungsbreite liegt trotzdem zwischen bürokratischer Zentimeterfuchserei und exzessiver Auslegung zugunsten Einzelner. (Andrea Waldbrunner, DER STANDARD Printausgabe 5.2.2004)