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Der Philosoph Immanuel Kant ("Kritik der reinen Vernunft") in einer zeitgenössischen Darstellung (Archivfoto). Er wurde am 22. April 1724 in Königsberg geboren und starb am 12. Februar 1804. Kants Werke kamen erst zu später Würdigung und freuen sich nun zu seinem 200. Todestag am 12.02.2004 aber großer Popularität.

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Wohl mag es ein Zufall sein: Aber dass sich die Debatten um die Reform der Universitäten, wie sie zurzeit in Deutschland und Österreich geführt werden, mit dem Gedenken an den 200. Todestag des preußischen Philosophen Immanuel Kant überschneiden, lässt es verlockend erscheinen, einmal darüber nachzudenken, wie es dem berühmten Aufklärer, ohne den es keine moderne Wissenschaftstheorie, keine zeitgemäße Ethik und keine avancierte Ästhetik gäbe, an einer österreichischen Weltklasseuni, wie sie immer wieder gefordert wird, wohl ergangen wäre. Lässt man Kants akademischen Werdegang kurz Revue passieren, muss man zu dem Befund kommen, dass ein Denker wie Kant im gegenwärtigen Wissenschaftsbetrieb keine Chance gehabt hätte. Im Gegenteil: Er verkörpert geradezu alles das, was dem Eifer der Universitätsreformer ein Dorn im Auge ist.

Das beginnt schon einmal mit Kants demonstrativer Immobilität und Unbeweglichkeit. Kant hat seine Geburtsstadt Königsberg so gut wie nie verlassen. Nach dem Studium verdingte sich der " Magister" als Hauslehrer und Bibliothekar, ehe er nach einer langen Zeit des Wartens endlich eine Professur an der Universität Königsberg, an der er auch die Lehrbefugnis erhalten hatte, bekam.

"Hausberufung"

Der klassische Fall einer verpönten "Hausberufung" also, die, so will es der Zeitgeist, nur Begrenztheit und mangelnde Mobilität signalisiert. Ohne jede internationale Erfahrung und ohne Auslandsaufenthalt bekommt Kant eine Lebensstelle an der Universität - das wäre angesichts des Ideals der befristeten Professuren sowohl unerwünscht als auch nur mehr schwer möglich.

Man sage übrigens nicht, dass die Verhältnisse vor 200 Jahren ganz anders waren: Im Zeitalter der Bildungsreisen und einer lebhaften akademischen Fluktuation war Kants Beharren auf Königsberg auch den Zeitgenossen verdächtig, zumal er Angebote anderer Universitäten ausgeschlagen hatte. Das bedeutet allerdings nicht, dass Kant kein Interesse an anderen Ländern und Kulturen gehabt hätte - im Gegenteil. Er war ein höchst aufmerksamer Leser von Reiseberichten, verblüffte seine Gesprächspartner oft mit geografischen Detailkenntnissen und hatte wohl eine zeitlebens unterdrückte Sehnsucht nach der Weite und Offenheit des Meeres. Kant kann aber bis heute als Beispiel dafür dienen, dass Weltoffenheit und kosmopolitische Gesinnung nicht unbedingt mit jener hektischen Reisetätigkeit zusammenfallen, die heute allenthalben propagiert wird.

Publikationsstopp

Kaum zum Professor ernannt, bestätigt Kant dann auch noch die schlimmsten Vorurteile, die man gegenüber beamteten Wissenschaftlern zu haben pflegt: Er hört zu publizieren auf. Es folgen zehn "Jahre des Schweigens", in denen gerade einmal zwei kleine Artikel in der Königsbergischen Zeitung erscheinen. Hätte man nach heutigen Kriterien die Universität Königsberg evaluiert, wäre es Kant wohl nicht erspart geblieben, sich wegen mangelnden Fleißes und ineffizienter Forschungsleistung zu verantworten. Die Zuordnung zu einem innovativen Forschungsschwerpunkt wäre ihm sicher gewesen.

Natürlich war Kant in diesen zehn Jahren nicht untätig gewesen: Er war Dekan der Philosophischen Fakultät, wurde ständiges Mitglied des Akademischen Senats, später auch Rektor der Universität, aber vor allem: In seinem Kopf wuchs die Kritik der reinen Vernunft. Wahrscheinlich gehören diese Jahre des Schweigens zu den produktivsten Phasen der Wissenschaftsgeschichte. Aber wer würde es in unserem aufgeregten Zeitalter der Vernetzung noch wagen, jahrelanges konsequentes und vor allem auch singuläres Nachdenken als Forschungsleistung zu qualifizieren?

Befremden

Als dann sein Hauptwerk endlich erschien, erlitt Kant den nächsten Tiefschlag, der ihn unter gegenwärtigen Bedingungen den Rest gegeben hätte: Die Scientific Community ignorierte das Werk zuerst, dann machte sie sich darüber lustig. Das Befremden, das Kant mit der Kritik der reinen Vernunft auslöste, hatte natürlich seine Gründe. Nicht nur verstieß er damit gegen so manche ideologische Grundüberzeugung seiner Zeit, sondern er hatte das Buch auch in einer Sprache verfasst, die, gerade weil es ihm um größtmögliche Genauigkeit im Denken ging, von vielen bis heute als beschwerlich und unnötig kompliziert erachtet wird.

Ähnliches gilt auch für die in rascher Folge erscheinenden weiteren Werke, die Kritik der praktischen Vernunft und die Kritik der Urteilskraft. Damit hätte Kant allerdings seinen letzten Kredit an einer Weltklasseuniversität verspielt: Unverständlich, zu schwierig, nicht kundengerecht, letztlich unnütz - mit solchen Qualifikationen würden sich weder Drittmittel auftreiben noch eine größere Öffentlichkeit mobilisieren lassen.

Vermächtnis

Es kommt allerdings noch besser. Nicht nur, dass Kant an einer Weltklasseuni keine Chance gehabt hätte, er hätte auch dieser keine Chance gelassen. Wenige Jahre vor seinem Tode, nach einem langen akademischen Leben, hat Kant sich so seine Gedanken über Sinn und Zweck einer Universität gemacht und unter dem Titel "Der Streit der Fakultäten" veröffentlicht. Viele Forscher halten diesen Text, eigentlich eine Sammlung von Aufsätzen, für Kants geistiges Vermächtnis. Und angesichts der virulenten Frage, ob etwa die Wiener Universität nun zwölf oder 18 Fakultäten haben soll - wobei die ehemalige medizinische Fakultät als eigene Universität schon ausgegliedert ist -, macht die Erinnerung an Kants Universitätsschrift besonderes Vergnügen.

In seinen Reflexionen über die Struktur einer Universität ging Kant nicht von äußerlichen Parametern wie Organisationsgrößen, Mitarbeiterzahlen oder budgetären Erwägungen aus - die letztlich Fakultäten zu beliebig vermehrbaren Einheiten werden lassen -, sondern in Rückbesinnung auf die Tradition der Universität von einer inhaltlichen, an der Logik von Wissenschaft orientierten Gliederung, die beim besten Willen nicht mehr als jene vier Fakultäten zulässt, die auch Goethes Faust mit mehr oder weniger heißem Bemühen besucht hatte: "Habe nun, ach! Philosophie, / Juristerei und Medizin, / Und leider auch Theologie / Durchaus studiert . . ."

Sinnvolle Logik

Die Logik dieser Fakultäten machte Sinn. Ging es in der "unteren" philosophischen Fakultät um die Grundlagen der Wissenschaften und ihrer Methodik, so ging es in den "oberen" Fakultäten um die pragmatische Ausformung und Anwendung der Wissenschaft auf das Heil der Seele (Theologie), die Gesundheit des Körpers (Medizin) und die Ordnung in der Gesellschaft (Recht). Kant hatte in seinem "Streit der Fakultäten" dieser alteuropäischen Universitätsgliederung einen entscheidenden Impuls gegeben.

Die oberen Fakultäten sind als angewandte Wissenschaften immer der Gefahr ausgesetzt, den Interessen der Politik (das war Kants Problem) oder den Interessen der Ökonomie (das ist unser Problem) untergeordnet zu werden, also letztlich heteronom, fremdbestimmt zu sein.

Autonome Philosophie

Einzig die untere philosophische Fakultät, die allein die Erkenntnis um ihrer selbst willen anstrebt und dabei ausschließlich der Vernunft verpflichtet ist, kann im eigentlichen Sinn selbstbestimmend, also autonom sein. In dieser Fakultät waren deshalb auch Geistes-, Natur- und Formalwissenschaften als Grundlagenwissenschaften so lange vereint, bis die Universitätsreformen der 70er-Jahre des 20. Jahrhunderts damit aufgeräumt und an deren Stelle ein beziehungsloses Nebeneinander von Disziplinen, Fachbereichen und Studiengängen gesetzt haben. Und nur wer von der Idee der Universität als Gesamtheit (universitas) der Wissenschaften und der mit ihr Befassten keine Ahnung mehr hat, kann auf die glorreiche Idee kommen, zum Beispiel die Medizin aus diesem Zusammenhang herauszubrechen.

Interdisziplinarität

Wissenschaften können nämlich nicht beziehungslos nebeneinander stehen. Lange bevor Interdisziplinarität ein leeres Modewort wurde, hat Kant versucht, das Verhältnis der Wissenschaften zueinander zu klären. Jede Universität, so Kant, bedarf eines philosophischen und erkenntniskritischen Fundaments, um die angewandten Wissenschaften immer dann zur Vernunft zu bringen, wenn sie wieder einmal Gefahr laufen, aus lauter Pragmatismus und vorauseilendem Gehorsam gegenüber ihren Auftraggebern die Wahrheit zu vernachlässigen.

Daraus resultiert ein notwendiger "Streit der Fakultäten", in dem es nicht um universitäts- oder gesellschaftspolitische Machtansprüche von Einzelwissenschaften geht, auch nicht um Fragen der "Definitionsmacht", sondern um eine öffentlich zu führende Auseinandersetzung um die Möglichkeit einer Wissenschaft, deren allererste Voraussetzung die Freiheit und Unabhängigkeit ist. Autonomie war für Kant kein Organisationsmodell, sondern ein inhaltliches Prinzip der Wissenschaft. Und der Sache nach kann nur eine zweckfreie Wissenschaft diese Autonomie verkörpern, jede Anwendung führt und verführt notwendigerweise zu Verzerrungen der Erkenntnis. Eine Universität, die auf ungebundene Grundlagenforschung und kritische Reflexion verzichtet, hat aufgehört, eine Universität zu sein.

Effizienz vs. Wahrheit

Mit solchen Ideen würde sich Kant an jeder Weltklasseuni unbeliebt machen. Zwar gelten die Universitäten nun als politisch unabhängig, dafür regieren in ihnen jene von Kant schon so genannten "Geschäftsmänner" und "Praktiker", denen es nicht um Erkenntnis, sondern um Einfluss, nicht um Wahrheit, sondern um Effizienz geht. Der Marburger Philosoph und Kant-Forscher Reinhard Brandt hat deshalb völlig zu Recht in seiner Studie über den "Streit der Fakultäten" bemerkt, dass die Gefährdung der Universität heute nicht mehr von der Kirche ausgeht wie im Mittelalter, auch nicht von einem übermächtigen Staat, sondern von der dritten gesellschaftlichen Potenz, dem Markt:

"Die Nutzdesiderate und die Ergebnisdiktatur der Marktgesellschaft destruieren auf eine subtilere Weise die Prinzipien der Gelehrtenrepublik und der Freiheit in Forschung und Lehre, als Kirche und Staat es konnten." An einer Weltklasseuniversität des frühen 21. Jahrhunderts wäre sich ein unabhängiger und redlicher Geist wie Immanuel Kant, der am Prinzip der Vernunft und an der Möglichkeit von Aufklärung festgehalten hatte, weil er deren Grenzen ausgelotet hatte wie kein anderer, verlorener vorgekommen, als er es an einer preußischen Provinzuniversität des späten 18. Jahrhunderts je hatte sein können. (DER STANDARD, Printausgabe, 7./8.2.2004)