Utopisches Projekt: Republik Užupis.

Mehr Bilder gibt's in der Ich war da-Ansichtssache.

Foto: Andreas Müller
Grafik: DER STANDARD

Der Präsident ist ein vielbeschäftigter Mann. "Er ist in Portugal", meint einer seiner Untertanen. "Nein, in der Mongolei", korrigiert ein Zweiter, während der Staatschef gerade um die Ecke kommt. Der Mann mit dem angegrauten Dreitagebart und den wasserblauen Augen trägt Verantwortung, sehr viel Verantwortung - "zum Beispiel für den Wind, unsere vier Flaggen - eine für jede Jahreszeit - und für unseren Kalender".

Das Jahr beginnt in der Republik Užupis am Frühlingsanfang. "Da werfen wir symbolisch alle Vorurteile ins Feuer", erklärt Präsident, Filmemacher und Künstler Roman Lileikis: "So haben wir wieder Platz für neue." Am 1. April feiert man die Unabhängigkeit und jeden Samstag einen Markt. Am Ostermontag, am "Tag der weißen Tische", bringen die Leute Essen und Getränke in den großen Biergarten an der Brücke nach Užupis. Dann genießen alle gemeinsam.

"Straße des Todes" steht immer noch in blutroter Schrift auf einer Hauswand an der Hauptstraße von Užupis, dem "Messerstecher"-Stadtteil, in dem einst die Armen lebten. Dann kamen die Künstler und jetzt die Investoren. Die verfallenen Häuser aus dem 18. und 19. Jahrhundert werden nach und nach teuer restauriert. Seit Gründung der Republik vor gut elf Jahren ist das in einer Schleife des Flüsschen Vilnelè gelegene uralte Viertel ein gefragtes Wohnquartier. In den schon renovierten Häusern eröffnen immer mehr Galerien und Cafés. Die Innenhöfe, in denen zwischen Toilettenhäuschen und verfallenden Häuserwänden die Anwohner ihre Sommerabende unter alten Bäumen im Grünen verbringen, wird es so nicht mehr lange geben.

"Alles Übel", sagt Roman Lileikis, entstehe doch aus dem Wunsch "zu haben und zu besitzen". Deshalb zeigt die Flagge von Užupis eine Hand mit einem Loch. "Alles fließt, wie unser Flüsschen hier."

"Unser Land", verspricht der Präsident, "ist so klein, da ist Platz für alle." Dem Dalai Lama, der wie viele Diplomaten schon auf "Staatsbesuch" in Uzupis war, gab er auf eine schwierige Frage eine einfache Antwort. "Was macht ihr mit Kriminellen", wollte der Tibeter wissen. "Wir leben mit ihnen", erwiderte Lileikis. "Wenn man sie kennt, mit Namen anspricht, beachtet und respektiert, geben sie Ruhe." Und das klappt? "Ja, zumindest hier."

Bürger von Užupis sind sie nicht alle, aber "wohl die meisten" der etwa 7000 Einwohner auf der Halbinsel, vermutet der Präsident. "Bürger wirst du mit dem Herzen, indem du dich zu den Werten unserer Verfassung bekennst." Die hängt in mehreren Sprachen - in silberglänzendes Metall graviert - riesengroß an einer Hauswand. Jeder hat das Recht zu lieben, einmalig zu sein, Fehler zu machen, missverstanden zu werden, glücklich oder unglücklich zu sein. Garantiert ist auch das Recht zu weinen. Aber: "Niemand hat ein Recht auf Gewalt" und "Der Hund hat das Recht, ein Hund zu sein", heißt es in der Verfassung. "Die Katze muss ihren Besitzer nicht lieben, ihm aber in der Not helfen."

Wahrheiten gibt es viele in Litauens Hauptstadt Vilnius, die 2009 den Titel Europäische Kulturhauptstadt trägt. 14 Kirchtürme sieht Roman Lileikis von seinem Fenster aus, guter Durchschnitt in der Stadt, der polnische Jesuiten mit ausladendem gegenreformatorischem Barock im 16. Jahrhundert ihren Stempel aufdrückten. An die 50 Kirchen fast aller christlichen Konfessionen ragen aus der Silhouette der mit 360 Hektar größten Altstadt Osteuropas, die die Vereinten Nationen zum Weltkulturerbe erhoben haben. Verschwunden sind die fast 100 Synagogen. 1939 bekannte sich rund jeder dritte Einwohner der Stadt zum jüdischen Glauben. Berühmte Gelehrte wie der "Gaon von Wilna" Eliyahu Ben Salomon Zalman (1720-1779) begründeten einst den Ruf Wilnas, wie Vilnius früher hieß, als "Jerusalem des Nordens" und Heimat der jüdischen Aufklärung Haskala.

Nur wenige der einst etwa 60.000 Wilnaer Juden haben den Holocaust überlebt. Eine kleine Gedenktafel erinnert in der Altstadt an das größte von Nazis abgeriegelte jüdische Ghetto in Nordosteuropa. Dem offiziellen "Genozidmuseum", das sich ausgiebig mit der sowjetischen Besetzung Litauens und den stalinistischen Verbrechen befasst, sind die ermordeten Juden der Stadt keinen Hinweis wert.

Die Erinnerung bewahrt das kleine jüdische Museum, das in einem brüchigen grünen Holzhaus versteckt am Rande der Innenstadt liegt. Originalfotos zeigen, wie aufgehetzte christliche Litauer auch ohne deutsche Mithilfe ihre jüdischen Nachbarn zu Tode prügelten. Allein in Panerai, rund zehn Kilometer außerhalb von Vilnius, erschossen die Nazis und ihre Helfer 70.000 Menschen. Die Ausstellung erinnert auch an die Litauer, die Verfolgte versteckt haben, an den Wiener Anton Schmid, der in Vilnius 3000 Juden das Leben rettete und an den Widerstand in den Ghettos. Die wenigen, die - meist durch die Kanalisation - entkamen, schlossen sich den Partisanen an. Im Juli 2008 arbeitete die litauische Staatsanwaltschaft an einer Anklage gegen die letzten Überlebenden. Der Vorwurf: Mord an Litauern. Nicht nur Museumsdirektorin Rachel Konstanian, die als Zeugin vorgeladen wurde, ist entsetzt. "Das schadet doch auch dem Image Litauens in der Welt."

Den Touristen zeigt sich Vilnius gerne weltoffen. In Scharen bestaunen die Gäste die in frischen Pastellfarben gestrichene barocke Pracht der Kirchen, die an schicken Cafés und Restaurants reiche Flaniermeile Piles-Straße, das Tor der Morgenröte mit seiner Wallfahrtskapelle und den vielen silbernen Votivtafeln, das klassizistische Rathaus, die 1579 gegründete Universität mit ihren 13 im italienischen Renaissancestil erbauten Innenhöfen, die Kathedrale und den Präsidentenpalast. Den Weg über die 1952 von den Sowjets gebaute "Grüne Brücke" finden nur wenige.

Am anderen Ufer der Neris frisst sich das moderne Europaviertel mit seinem Einkaufszentrum und den gläsernen Hochhäusern immer tiefer in die letzte Holzhaussiedlung der Stadt. "Hier leben die Roma", erklärt Frank Wurft, ein junger Deutscher, der vor rund zehn Jahren nach Vilnius gezogen ist. Auf seinen dreistündigen Fahrradtouren zeigt er die etwas außerhalb gelegene, mit prachtvollem Stuck verzierte Peter-und-Paul-Kirche ebenso wie das ehemalige sowjetische Einkaufszentrum "Minsk", Plattenbau-Vororte, den früheren Kulturpalast des Innenministeriums sowie überraschende Blicke von den Hügeln der Umgebung und von einem Parkhausdach auf die Altstadt.

"Die Litauer", so erklärt Frank, "gelten als die Italiener des Baltikums", spontaner und etwas chaotischer als die Nachbarn im Norden seien sie. "Was", fragt er in die Runde, "haben die Balten nach der Wende mit ihren Lenin-Statuen gemacht?" - um sich selbst die Antwort zu geben: "Die Esten haben ein finnisches Unternehmen mit der Entsorgung beauftragt, die Letten haben ein Referendum angesetzt, und die Litauer haben die Statuen einfach umgeworfen." (Robert B. Fishman/DER STANDARD/rondo/18.9.2008)