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Warum heulen ihn die Wölfe an? Wie beeinflusst er die Gezeiten?

Foto: EPA/Alessandro della Bella

Es ist gegen halb fünf Uhr am Nachmittag, als wir losstapfen. Mäßig bergauf, der untergehenden Sonne nach, die wir aber nicht mehr erreichen. Das ist jedoch gar nicht unser Ziel, wir sind im Gegenteil hinter dem Mond her, der in einer guten halben Stunde aufgehen wird, über der Höslalm zwischen Alpbach und der Wildschönau in den Kitzbüheler Alpen im Tiroler Unterinntal.

Sepp Lintner, der Alpbacher Bergführer, der diese Abendveranstaltung wahlweise als Skitour oder Schneeschuhwanderung anbietet, ist eine kauzige Mischung aus Naturromantiker und Tourismuspragmatiker. Auf seiner Homepage hat er ein großartiges Naturerlebnis angekündigt, bei "vollmondtauglicher Wetterlage", das heißt klarer Nacht. Zu unserer bunt zusammengewürfelten Gruppe gehören die Einheimische Angela, im Sommer Sennerin, im Winter Köchin, die deutsche Erwachsenenbildnerin Nadine, die die Zeit bis zur endgültigen Berufsentscheidung als Skilehrerin in Tirol überbrückt, und schließlich Kees, ein holländischer Weltenbummler mit Wohnsitzen in Alpbach, der Karibik und Südafrika.

Exakt getimt wartet, als wir nach einer Dreiviertelstunde die Höslalm auf 1500 Meter erreichen, die perfekte Scheibe des ersten vollen Mondes im neuen Jahr auf uns, umkränzt von der Venus und unzähligen anderen Sternen.

Magische Anziehungskraft

Warum nur können in solchen Momenten weder Nasa noch Weltraumfotografie der magischen Anziehungskraft des bleichen Erdtrabanten beikommen? Und nicht nur das. Warum heulen ihn die Wölfe an? Wie beeinflusst er die Gezeiten? Macht es Sinn, Holz nach Mondphasen zu schlägern? Dass bei Vollmond mehr Kinder auf die Welt kommen, ist inzwischen widerlegt, wie weit er für das Schlafwandeln - die sogenannte Mondsucht - verantwortlich ist, bleibt umstritten.

Unbestritten dagegen ist, dass der nächtliche Lichtspender all jenen, deren Gewerbe wenigstens teilweise abgekehrt vom Tageslicht ausgeübt wird, abwechselnd Hilfe und Gefahr bedeutet. Das sind die Krieger und, weniger gefährlich, die Schmuggler, Wilderer und seit längerem auch gelegentlich die Bergsteiger.

Es war am 14. August 1962, dass ich an einem Vollmondabend vor der Vajoletthütte in der Rosengartengruppe der Dolomiten stand. Aus der Hütte kamen, in Kletterausrüstung, vier Italiener, mit denen ich am Nachmittag ein paar Worte gewechselt hatte. Was sie vorhätten, fragte ich, und sie sagten "Spigolo Delago". Das ist die messerscharfe, fast senkrechte, aber nicht übermäßig schwere Kante des Torre Delago, des linken der drei, vom berühmtesten Alpenkünstler E. T. Compton gemalten Vajoletttürme. Ich hatte in den letzten Tagen immer wieder, in Ermangelung eines Partners, sehnsüchtig die Kante hinaufgeblickt und fragte jetzt, ob ich mitgehen dürfe. "Ja, wenn du ein Seil hast."

Stilles Rodeln bei Mondschein

Um 23 Uhr waren wir beim Einstieg, ich ging als Letzter, und da der Mond wandaufwärts wanderte, musste ich mich bei jeder Seillänge die ersten fünf bis sechs Meter in tiefer Dunkelheit emporhanteln. Dann erst sah ich die plastischen Griffe und Tritte, die mir heute noch in der Erinnerung als warm erscheinen. Um halb ein Uhr waren wir auf dem Gipfel, es folgte das Abseilen durch einen pechschwarzen Kamin, um zwei Uhr waren wir zurück auf der Hütte. Ich habe meine Gefährten - darunter ein Bergführer aus dem Trentino, ein Avvocato aus Genua und ein Sizilianer, nie mehr gesehen. Damals hätte an die marketingtechnische Nutzung des Vollmondes noch niemand gedacht.

Beim ersten Vollmond im Jahr 2009 stiefeln wir von der Höslalm mit unseren Schneeschuhen weiter, zuerst eine Viertelstunde etwas steiler bergauf, dann flacher über Wiesen und Waldschneisen zum Plateau der Höslhöhe. Der Schnee glitzert, der Mond steht jetzt genau über dem Kitzbüheler Hahnenkamm, der uns die der Streif abgewandte Seite präsentiert. Bergführer Sepp zeigt uns die Lichter der Höfe in der Wildschönau und erzählt Geschichten. Von den armen Bauern, die zwischen den Kriegen nach Südamerika ausgewandert waren und dort die Siedlung Dreizehnlinden gegründet hatten, und von einem 1944 abgeschossenen US-Flugzeug, dessen mit dem Fallschirm abgesprungene Besatzung von der kriegsmüden Bevölkerung als Vorboten der Befreiung empfangen wurde. Beim Abstieg entlang einer schneidigen Rodelbahn müssen wir die Stirnlampen aufsetzen; bis die uns entgegenkommenden Rodler abfahren, würde auch auf dieser Seite des Berges der Mond aufgegangen sein.

"Stilles Rodeln bei Mondschein statt der lärmenden Hütten-Gaudi" empfahl kürzlich eine Tageszeitung. Auf der Suche nach immer neuen Attraktionen vermarktet die Tourismusbranche nun auch die Mondnacht. Von Full-Moon-Downhills auf der Stephan-Eberharter-Piste in Hochfügen bis zu Mondschein-Schneeschuhwanderungen mit den Nationalpark-Rangern in den Hohen Tauern reichen die mehr oder weniger originellen Angebote. Bergführer Sepp Lintner warnt vor Auswüchsen. Glühwein und Jagatee sollten bei nächtlichen Ski- und Rodelpartien nichts verloren haben. Auch wir halten uns daran, bis wir gegen 22 Uhr sicher im Tal sind. (Horst Christoph/Der Standard/rondo/30/01/2009)