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Wie oft ich mich als Kind von einem Buch losreißen musste, hinaus aus dem Warmen, da ich unbedingt meine Schritte durch den frisch gefallenen Schnee, durchs Laub oder auf federnden Waldböden spüren wollte.

Seltsam muss dieser Mann ausgesehen haben, immer wieder im letzten Sommer, wenn er morgens von den Zeltplätzen, Hütten oder Etappenorten seiner Alpenreise wegging und kaum vorankam. War er doch am Vorabend noch trotz seines gewichtigen Rucksacks so schnell wie kaum ein anderer den Hang herauf- oder in den Ort hereingekommen. Jetzt aber blieb er alle paar hundert Meter stehen, ein wenig nach vorn gebückt, so als würde er etwas notieren - genauer konnte man das angesichts des ihn weit überragenden Rucksacks jedoch nicht sagen. Warum aber schaute er nicht, dass er weiterkam? Immerhin war sein Weg über die Alpen von Muggia nach Monte Carlo gut 2000 Kilometer lang. Und warum blieb er selbst dann stehen, wenn es regnete oder Schwüle bereits am Morgen Nachmittagsgewitter ankündigte?

Weshalb mir die meisten Sätze und Notizen dieser Reise tatsächlich im Weggehen einfielen, weiß ich auch heute noch nicht, da ich mit den Notizbüchern, Landkarten und all den anderen Zeugen meiner Unternehmung im Arbeitszimmer rund um mich seit einigen Wochen am Roman dieser viereinhalb Monate dauernden Reise schreibe. Doch ich weiß, dass es so war, spüre immer noch die dabei gegen meine Hüften gelehnten Stöcke, das in der linken Hand gehaltene und an der Beckentasche abgestützte Notizbuch und den Kugelschreiber in der rechten.

So ging ich weg - und schrieb mir etwas auf. Selten das, was ich gerade sah. Nicht die Maisonne auf einem aus Crni Vrh hinausführenden Feldweg. Nicht die stolzen Trachten der Kirchgänger im Gailtal. Und schon gar nicht jene bangen, gespannten Fragen, die mich im Hochgebirge nicht selten begleiteten: Wie eng wird der Steig sein, wie ausgesetzt? Wie steil die zu überquerenden Schneefelder und -rinnen? Stattdessen war es im Weggehen meist der vorangegangene Tag, der mich oft nach wenigen Schritten stehenbleiben und an etwas ganz anderes denken ließ als das, was gerade rund um mich war.

Und so findet sich in meinem Notizbuch zu der in immer dichterem Nebel von dem Rifugio Bertacchi nach Isola hinunterführenden Etappe folgender Eintrag: "Wie ich gestern angekommen bin und die beiden Hüttenwirte in den Himmel geschaut haben bzw. in die Luft und, ohne sich nach mir umzudrehen, sagten: Das ist erst das zweite Flugzeug heute! Worauf ich ganz selbstverständlich antwortete, dass ich das erste vor einer Stunde am Niemet-Pass gesehen habe, und damit alles gesagt war, was es in dem Augenblick zur gegenseitigen Begrüßung bedurfte. - Genau so weit weg wie die Flugzeuge des Vortags im dichtesten Nebel führen aber auch Notizen des gerade Gesehenen wie jene, die ich mir auf dem Weg von Kötschach-Mauthen nach Birnbaum am Waldrand nach ein paar hundert Metern gemacht hatte: "So geht es aus der Ortschaft hinaus, meist an einem Friedhof oder Neubauten vorbei. Aufgehängte Wäsche oder ein spielendes Kind. Dann Wiesen und ein Stück weiter der Wald. Schon ist man weg, schon ist man da."

Es sind zwei Anziehungskräfte für mich, aus denen die Physik solcher Augenblicke besteht. Buchstäblich Beweggründe, die mich bereits in meiner Kindheit hin- und hergezerrt hatten. Das Laufen und das Lesen, zwei konträre und im besten Fall komplementäre Bewegungen durch die Welt. Wie oft ich mich als Kind von einem Buch losreißen musste, hinaus aus dem Warmen, da ich unbedingt meine Schritte durch den frisch gefallenen Schnee, durchs Laub oder auf federnden Waldböden spüren wollte; Wünsche, Tagträume im Kopf, die Strecke vor Augen und einen unter meinen Füßen nur so dahinfliegenden Boden. Lesen oder Laufen, Laufen oder Lesen. So sehr das für mich damals schon Aggregatzustände ein und derselben Bewegung waren, so wenig ließen sie sich miteinander verbinden. Irgendwann entschied ich mich als Jugendlicher dann für den Sport, las nichts anderes als Zeitungen mehr und trainierte so viel wie möglich, um in den ÖSV-Skilanglaufkader zu kommen. Doch es war zu wenig, nicht nur für den ÖSV, sondern auch für mich. Ganz genau erinnere ich noch, wie ich nach meinem letzten Skilanglaufrennen, einem Austria-Cup in der Nähe von Kitzbühel, meine Ski im März 1990 in den Mannschaftsbus warf und in dem Augenblick wusste, dass ich sie mir lange nicht anschnallen würde, vielleicht nie mehr.

Gut acht Jahre hielt ich es ohne Sport durch, maturierte, studierte und begann an einem Prosa-Manuskript zu arbeiten, das mir einen Preis in Niederösterreich und ein Stipendium in Berlin einbrachte, anstatt fertig zu werden, jedoch immer komplizierter wurde, während in meinem Kopf längst eine andere Geschichte drängte. Oder vielmehr in meinen Beinen. Denn dort war sie mir eingefallen, vor nunmehr genau zehn Jahren.

Am 30. Mai 1999, irgendwo während der ersten Hälfte des Wien-Marathons. Am Start hatte es bereits mehr als 20 Grad gehabt, wie hoch die Temperatur im Ziel war, weiß ich nicht mehr. Nur, dass ich nasse Füße gehabt hatte, da entlang der Strecke mit Feuerwehrschläuchen Wasser auf die Läufer gespritzt worden war. Kaum zwei Monate hatte ich für den Marathon trainiert, und das nach Jahren völliger Sportabstinenz. So war es auch kein Wunder, dass ich auf den letzten Kilometern die Arroganz dessen büßte, der mit sechzehn, siebzehn Jahren im Training bereits Distanzen von über dreißig Kilometern mit einer Leichtigkeit gelaufen war, die ihn immer noch glauben machte, daran ohne Weiteres anschließen zu können.

Läufer und Mörder

Bevor die Beine am Ende des Marathons aber nur noch schmerzten, irgendwo zwischen Kilometer zwanzig und dreißig auf dem Weg in den Prater, war mir dann die Geschichte von Johann Kastenberger eingefallen. Eine Geschichte, die ich während der Achtzigerjahre selbst miterlebt hatte. Damals, als noch niemand etwas vom Bankräuber und Mörder Johann Kastenberger gewusst hatte, der Läufer Kastenberger nach einer Reihe von Siegen und einem bis heute geltenden Rekord beim Kainacher Bergmarathon in der Laufszene jedoch bereits bekannt gewesen war.

Immer wieder war ich ihm damals bei verschiedenen Straßenläufen begegnet. Nie so, dass ich auch nur irgendetwas über ihn sagen hätte können, andere Läufer hatten mich weit mehr interessiert. Das änderte sich jedoch schlagartig, als er im November des Jahres 1988 als jener Bankräuber entlarvt wurde, den die Zeitungen "Pumpgun-Ronnie" genannt hatten, da er seine Überfälle immer mit der Pumpgun im Anschlag und einer Ronald-Reagan-Maske über dem Kopf absolviert hatte. Einmal sogar drei an einem Tag, "weil es so gut lief", wie er im Verhör sagte, "nicht weil ich das Geld gebraucht hätte". Viel mehr hatten die Vernehmungsbeamten aus ihm jedoch nicht herausbekommen, ebenso wenig über den Mord an einem Wifi-Kurs-Kollegen, dem er - angeblich hatte ihn dessen unentwegtes Rauchen gestört - aus nächster Nähe ins Gesicht geschossen hatte.

Dass ich seine Geschichte, die nach zu Fuß erfolgter Flucht schließlich in einem Wagen auf der Westautobahn geendet hatte, erzählen konnte, dessen war ich mir sicher gewesen, als ich im Mai 1999 von der Hauptallee kommend in den Wurstelprater eingebogen war. Weder Langos-Geruch noch die monotonen Passagen vorbei am Messegelände konnten mir mit dieser Idee in den Beinen noch etwas anhaben.

Selbst als sie auf der Erdberger Straße kaum mehr zu heben waren und trotzdem weiterliefen, Schritt für Schritt, vorbei am Bahnhof Wien-Mitte, Stadtpark, Oper, Heldentor, immer dem Kopf hinterher - und das bis heute, der Kopf und die Beine, genau so aber auch umgekehrt. Gerade dann, wenn man nicht weiterkommt. Ganz gleich, ob auf den letzten Kilometern eines Marathons oder mit den unzähligen Unterlagen einer Reise rund um sich im Arbeitszimmer: Schon ist man weg, schon ist man da. Wie jene Gestalt am Waldrand, die mit ihrem Rucksack so gebückt dagestanden war, dass man sich zu Recht fragte, was sie eigentlich mache. (Martin Prinz/DER STANDARD/Rondo/6.3.2009)