Der Übergang vom Mooserboden zum Tauernmoossee in der Glocknergruppe ist eine recht einsame Gegend. Auch ich war dort vor fünf Jahren (RONDO Nr. 280) mutterseelenallein unterwegs. So dachte ich jedenfalls, aber im Abstieg vom Kapruner Törl, auf einem schmalen Zickzacksteig hatte ich plötzlich das Gefühl, beobachtet zu werden. Ich blickte den steilen Hang hinauf, und da standen sie, nur wenige Meter entfernt, zwei ausgewachsene Steinböcke mit mächtigem Gehörn. Sie beäugten mich, und mein Herz klopfte. Nie war ich wilden Tieren so unvermittelt und nahe gegenübergestanden. Die Böcke waren genauso überrascht wie ich, nach wenigen Sekunden stoben sie davon.
Die Begegnung bleibt unvergessen. Vergangenes Jahr auf der Franz-Josefs-Höhe der Großglockner-Hochalpenstraße konnten wir ein Rudel von mindestens zwanzig Stück Steinwild in aller Ruhe mit hochwertigen Feldstechern beobachten, aber das war ungleich weniger eindrucksvoll als das Erlebnis im stillen Kar.
So oder so, ob in einsamen Hochtälern oder entlang alpiner Trampelpfade, ist die Begegnung mit Steinböcken heute nichts Ungewöhnliches mehr. Geschätzte 5000 von ihnen leben allein auf österreichischem Boden. Nachdem sie bis 1850 in weiten Teilen der Alpen ausgerottet waren, da ihrem Fett in der Volksmedizin Heilwirkung zugeschrieben wurde, bemühten sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts Naturfreunde, vor allem in der Schweiz, um eine Wiederansiedlung des stolzen Wildes.
Die Schwierigkeiten bestanden dabei in der Beschaffung der Tiere. Die einzigen nennenswerten Bestände an Steinwild gab es im Aostatal, im Gebirgsmassiv des Gran Paradiso, das zum Jagdrevier der italienischen Königsfamilie von Savoyen gehörte. Und diese wachte streng über ihren Besitz. Als zum Beispiel die Savoyer dem kaiserlichen Tiergarten von Schönbrunn im Jahr 1902 vier Steinwildkitze überließen, sandte Franz Joseph dem italienischen König Vittorio Emanuele III. als Gegengeschenk zwei Lipizzaner und eine Prachtkutsche samt kostbarem Geschirr.
Nicht ganz legale Mittel
In dieser Situation griffen die Schweizer zu nicht ganz legalen Mitteln. Für gutes Geld fingen Wilderer am Gran Paradiso Baby-Steinböcke und brachten diese über verschiedene Alpenpässe in Schweizer Gehege, von wo sie über Jahrzehnte sukzessive ausgewildert wurden.
Obwohl erste Versuche einer Aussetzung von Kitzen bei Öblarn im Oberen Ennstal bereits 1907 erfolgten, begann eine erfolgreiche Ansiedlung in Österreich erst in den Fünfzigerjahren. 1973 schenkte die Schweizer Kantonalregierung von Graubünden, dessen Wappentier der Steinbock ist, dem Tiroler Landeshauptmann Eduard Wallnöfer zu dessen 60. Geburtstag drei Geißen und zwei Böcke, die der knorrige Landespolitiker unter gebührender Medienbeteiligung im Radurschltal im Bezirk Landeck freiließ. Heute vermehrt sich das Steinwild ohne menschliches Zutun, im gesamten Alpenbogen leben etwa 40.000 Tiere.
Wie sehr ganz verschiedene Arten der hochalpinen Fauna voneinander abhängig sind, zeigt, dass die erfolgreiche Wiederansiedlung des Steinwilds eine Voraussetzung für die Auswilderung einer anderen Art von Wildtieren war, nämlich der Bartgeier, für die das Aas der durch Lawinen umgekommenen Steinböcke eine wichtige Nahrungsquelle darstellt. Ebenfalls bis zum Ende des 19. Jahrhunderts ausgerottet, wurde Mitte der Siebzigerjahre ein internationales Wiederansiedlungsprojekt beschlossen, an dem sich die Schweiz, Frankreich, Italien und Österreich beteiligten.
Nachgezüchtet wurden die imposanten Aasfresser zum ersten Mal im Innsbrucker Alpenzoo und inzwischen in rund vierzig anderen Gehegen. Freilassungen begannen 1986, in Österreich wurde ein erster in Gefangenschaft geschlüpfter Vogel im Rauristal im Nationalpark Hohe Tauern ausgewildert. Inzwischen leben in Österreich zeitweise 15 bis 16 Vögel, in den Sommer- und Herbstmonaten bis zu 25, wie Gunther Greßmann, österreichischer Koordinator der Bartgeierbeobachtung, weiß.
Sie sind namentlich bekannt, heißen Doraja, Samuel, Portobello oder Andreas Hofer und werden - vor der Freilassung beringt, mit Sendern versehen oder durch Färben der Federn gekennzeichnet - laufend beobachtet. Das ist gar nicht so einfach, da die Bartgeier erstaunliche Flugdistanzen von manchmal 600 Kilometern pro Tag zurücklegen und also heute im Bregenzerwald und morgen in Frankreich auftauchen können.
Auch die Brutplätze der Geier sind bekannt. Während in Österreich erst ein Mal ein Bartgeier in der Wildnis geschlüpft ist, ohne freilich zu überleben, verlief die Aufzucht in anderen Teilen der Alpen erfolgreicher. In der Schweiz schlüpften 2007 erstmals drei, im vergangenen Jahr vier Küken in Freiheit. Zwei der Letzteren fielen dem heurigen harten Winter zum Opfer, die anderen sollten im Juli flügge werden. Der Schweizer Bartgeier-Spezialist Chaspar Buchli stellt daher optimistisch fest: "Das Ziel, eine selbstständige Population im Alpenraum anzusiedeln, ist erreicht."
Problembären
Inzwischen gibt es im gesamten Alpenbogen 140 Tiere, und ob weitere Auswilderungen in den nächsten Jahren nötig sind, wird derzeit diskutiert. Manche Ornithologen plädieren dafür, eine Verbindung der Bartgeier-Bestände in den Alpen, dem französischen Zentralmassiv und den Pyrenäen anzustreben.
Nicht alle Auswilderungsversuche sind so erfolgreich. Erst vor wenigen Wochen meldeten die Tageszeitungen, dass im niederösterreichisch-steirischen Raum der nördlichen Kalkalpen nur noch zwei Bären leben: der 20 Jahre alte Djuro und sein bald achtjähriger Sohn Moritz. Was 1972, als ein Braunbär aus Slowenien im Ötscherland auftauchte, euphorisch als Beginn einer Rückkehr von Meister Petz in ein für ihn ideales Siedlungsgebiet gefeiert wurde, muss heute als gescheitert betrachtet werden. Warum die Zahl der scheuen Einzelgänger, die vorübergehend auf 30 Stück gewachsen war, inzwischen so dramatisch gesunken ist, muss erst im Detail analysiert werden. Während die ÖBB noch mit Kindergeburtstagen im Ötscherbär-Expresszug von St. Pölten nach Mariazell werben, ermittelt das Bundeskriminalamt gegen unbekannte Wilderer. (Horst Christoph/DER STANDARD/Rondo/10.4.2009)