An die Alpen als Fluchtorte erinnert eine Gedenkwanderung im Juli. Die Alpen waren und bleiben aber auch Sehnsuchtsorte, im Bild orthodoxe Feriengäste in Graubünden.

Foto: Jüdisches Museum Hohenems

Was genau Ötzi vor 5300 Jahren auf das Hauslabjoch führte, wissen wir nicht, aber mit Sicherheit war es nicht die schöne Aussicht. Und die geschätzten 34.000 Soldaten, die der punische Feldherr Hannibal im Jahre 218 vor Christus irgendwo zwischen Frankreich und Italien über die Alpen trieb, waren dabei wohl zu allerletzt stolz auf ihre körperliche Leistung.

Immer schon wurden also aus anderen als freiwilligen Gründen unwegsame Gebirgszüge überquert. Überlebenskampf, Krieg und Verfolgung zwangen Menschen in Gebiete, die sie sonst nie betreten hätten. Im 20. Jahrhundert und besonders durch den Zweiten Weltkrieg erreichte die Bedeutung der Alpen als Fluchtregion einen traurigen Höhepunkt. Das galt besonders für relativ leicht erreichbare, aber politisch abseits gelegene Übergänge, deren einer der Krimmler Tauern zwischen Salzburg und dem seit Ende des Ersten Weltkriegs zu Italien gehörenden Südtirol war.

Der 2634 Meter hohe Krimmler Tauernpass wurde schon während des Römischen Reiches von Legionen aus der Provinz Noricum als Übergang benutzt, im Mittelalter galt er als Ausweichweg, wenn die viel einfachere Route über den Brennerpass aus politischen Gründen nicht ratsam schien.

1340 etwa benutzte der spätere Kaiser Karl IV. den Übergang. Um den Saumweg für den Transport von Salz, Wein und Eisenwaren zu sichern, beauftragte die erzbischöfliche Hofkammer den Wirt der "Taferne", des heutigen Tauernhauses, mit der Verpflegung der Säumer und der Wartung des Weges. Da das von den Krimmler Wasserfällen nach Süden flach ansteigende Tauerntal durch warme Südwinde als Weidegebiet begünstigt war, schickten viele Bauern aus dem steilen Südtiroler Ahrntal seit dem 19. Jahrhundert ihre Rinder für den Sommer über den Pass.

Brutal wurde diese Almidylle dann mit dem Zweiten Weltkriegs und dem Holocaust beendet. 1945 hatten geschätzte 8000 deutsche Soldaten der Südfront den zur amerikanischen Besatzungszone gehörigen Krimmler Tauern als Rückzugsweg gewählt, weil sie Angst hatten, auf den von Franzosen bzw. Briten kontrollierten Routen über den Brenner oder Sillian in Gefangenschaft zu geraten. Zwei Jahre später entschied sich aus ähnlichen Gründen die jüdische Flüchtlingsorganisation Bricha (Flucht) dafür, den Krimmler Tauern und das Tauernhaus in umgekehrter Richtung zu benutzen.

Überlebende von Konzentrations- und Zwangsarbeiterlagern im Salzkammergut, in Kärnten, Tirol und Vorarlberg sollten nach Genua und von dort auf Schiffen nach Palästina gebracht werden. Ungefähr 15.000 Juden wurden 1947 über verschiedene Alpenpässe illegal nach Italien geschleust. Sie waren ein Teil jener mehr als 250.000 jüdischen Überlebenden und Flüchtlinge, die nach dem Krieg in den alliierten Besatzungszonen des ehemaligen Deutschen Reichs auf die Chance warteten, in die USA oder nach Palästina auszuwandern. Wieder erhoffte man sich, die Transporte im Bereich der US-Besatzung leichter durchführen zu können als in der britischen oder französischen Zone.

Viktor Knopf, in seiner Jugend begeisterter polnischer Bergsteiger, der die KZs Auschwitz und Ebensee mit einem schweren Lungenschaden überlebt hatte, führte zwischen Juni und September 1947 mehr als 3000 Menschen über den Tauern. Der illegale Grenzübertritt erfolgte, wie ein Protokollbuch der Gemeinde Krimml vermerkte, "in Gruppen bis zu 250 Personen und war sehr gut organisiert". Liesl Geisler-Scharfetter, die Hüttenwirtin des Tauernhauses, die für ihre Verpflegung der Flüchtlinge erst lange später vom Land Salzburg geehrt wurde, erinnerte sich an die in Schachteln auf dem Rücken transportierten Säuglinge.

"Nicht nur die Amerikaner schauten weg", recherchierte Hanno Loewy, der Leiter des Jüdischen Museums Hohenems, "sondern auch die österreichischen Gendarmen schienen ganz zufrieden zu sein, dass die Juden nun auf diesem Weg verschwanden." Rückfragen im Innenministerium hätten dem Gendarmerieposten in Krimml empfohlen, nicht aus dem Fenster zu schauen, wenn Judentransporte den Ort passierten.

Vom alpinen Exodus hatte auch der amerikanische Schriftsteller und Zionist Meyer Levin erfahren. In seinem semidokumentarischen Film The Illegals bildet ein Flüchtlings-Treck über den Krimmler Tauern den Höhepunkt zwischen der Begegnung eines Paares im Warschauer Ghetto und dem Einander-Wiederfinden auf einem Flüchtlingsdampfer nach Palästina.

Auch schon zu Beginn der Verfolgung durch die Nazis hatten Juden die Flucht über Grenzberge versucht. Einer der ersten und bekanntesten war der Dichter Jura Soyfer, der sich am Tag des "Anschlusses", dem 13. März 1938, von Gargellen im Vorarlberger Montafon aufmachte, um gemeinsam mit seinem Freund Hugo Ebner auf Skiern über das Schlappiner Joch in die Schweiz zu fliehen. Sie wurden von einer Grenzkontrolle gestellt und ins KZ Dachau gebracht, wo Soyfer sein legendäres Dachaulied schrieb. Ins KZ Buchenwald überstellt, starb er 1939 an Typhus.

Ein "Alpine Peace Crossing" über den Krimmler Tauern und eine Wanderung auf den Spuren verfolgter Juden von Vorarlberg in die Schweiz wollen die Erinnerung an diese traurigen Ereignisse lebendig erhalten. Beide Veranstaltungen laufen im Rahmenprogramm der Ausstellung Hast du meine Alpen gesehen? Eine jüdische Beziehungsgeschichte, die noch bis 4. Oktober im Jüdischen Museum Hohenems und ab 16. Dezember im Jüdischen Museum Wien zu sehen ist. (Horst Christoph/DER STANDARD/Rondo/26.62009)