Für den Landgang sollte man gut angezogen sein.

Foto: Prieschnig
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Grafik: DER STANDARD

Schaurig-schöner kann ein Empfang nicht sein. In Sisimiut, der zweitgrößten Stadt Grönlands, singen die Hunde. Lautstark machen sie auf sich aufmerksam. Die neugierigen Ankömmlinge bemerken den Chor erst jetzt. Gut getarnt stehen mehr als hundert wuschelige Vierbeiner auf den graubraunen Felsen, abseits der Häuser. Den Einsatz gab die Mittagssirene, und jetzt singen alle mit: Nein, Heulen kann man das nicht nennen. Das ist – ganz simpel – große Musik.

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Immer zu zweien hängen die Hunde an meterlangen Ketten und verbringen den größten Teil des Tages unbeachtet unter sich. Vielleicht sehnen sie sich in ihrer Zweisamkeit nach dem Winter, wenn es darauf ankommt, sich zu beweisen, loszustürmen und den Schlitten zu ziehen.

Eine Welt von gestern betreten die Passagiere des Expeditionsschiffes MS Fram mit jedem Landgang. Nach Kangerlussuaq, Ankunftsflughafen im Südwesten Grönlands, ist Sisimiut die zweite Station auf dem Seeweg der MS Fram in den Norden zur Diskobucht und den Eisriesen nördlich des Polarkreises.

"Siedlung an den Fuchslöchern", heißt die Stadt mit ihren rund 5000 Einwohnern. Fuchslöcher mögen unter der Erde vorhanden sein, zu sehen sind sie nicht. Stärker zu spüren ist ein Drang, der Mensch und Tier in gleicher Sehnsucht nach vorn zieht. Zum Schnee hinaus, ins weite Land, in die Freiheit.

Rund 200 Passagiere fasst das Schiff auf sechs Decks. Mit modernsten technischen Standards versehen, muss die nach Fridtjof Nansens Expeditionsschiff benannte Fram Eisberge nicht fürchten. Kleinere rammt sie beiseite, größere werden per Echolot rechtzeitig ausfindig gemacht und großräumig umfahren. Die Fahrt geht von Kangerlussuaq Richtung Westen durch den 180 Kilometer langen Søndre Strømfjord, bevor es – raus aufs offene Meer – Richtung Norden geht.

Die Hunde warten auch in Uummannaq, am Fuße des 1170 Meter hohen "Herzbergs". Die Einwohner leben von Jagd- und Fischfang. Vor den Häusern flattert die Wäsche im Wind, bei Temperaturen um den Gefrierpunkt. Charakteristisch sind die bunten Häuser in allen Siedlungen. Im Schneegestöber helfen die Farben bei der Orientierung: Gelb heißt Krankenstation. Blau: Wasser- und Energieversorgung. Rot: Verwaltung, Schule, Stadtbüro. Gleich neben der Wäsche baumelt ein Stück Rentierfleisch und wartet auf seine Zubereitung.

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Kulinarisch möchte man zumindest früher nicht dabei gewesen sein. Allergrößtes Festessen war einst Giviaq. Das Rezept: Man nehme eine Robbe, höhle sie aus, fülle sie mit Speck und einer Handvoll frisch in den Bergen gefangenen Vögeln, lege alles zusammen hinter einen Felsen mit Steinen darüber. Über den Sommer triefen die Zutaten und gefrieren im Winter zum festen Klumpen. Die Leckerei wurde stückweise verteilt. In Ukussisat, 71° nördlicher Breite, erhalten die Passagiere an Bord Besuch von den rund 50 Einwohnern des Dorfes. In Robbenfellen und traditionellen Kostümen führen sie Tänze vor und vermitteln den Zauber einer Eingeborenenkultur, die lange von den westlichen Entdeckern unterdrückt wurde. Dazu tollen Kinder durch die Gänge, probieren sich an den Internetschirmen und radeln auf den Ergometern, die sonst den Passagieren vorbehalten sind. Kinder in Grönland dürfen alles: Weil man an Wiedergeburt glaubt, könnte es ja sein, dass sich die verstorbene Uroma im Nachwuchs aufhält. Und der kann man ja schlecht Erziehungsregeln vorgeben.

Grönland, so groß wie Europa, ist geologisch ein Atoll mit einem rund 30 Kilometer breiten Festlandgürtel. Vor 50 bis zehn Millionen Jahren war das Land fast völlig eisfrei. Vor einer Million Jahren breitete sich die Eisdecke über den Gürtel. Heute besteht Grönland zu 80 Prozent aus Eis. Bis zu 3000 Meter türmen sich die Gletscher empor und drängen nach unten. An der Diskobucht liegt eine der Öffnungen für das Inlandeis: Dort bricht der Gletscher direkt im Meer ab und hält den Meeresspiegel auf konstanter Höhe – soweit das eben möglich ist. Denn die globale Erwärmung bedeutet für dieses Zentrum des Weltklimas gleich mehrfach nichts Gutes: Zum einen steigt durch die schmelzenden Gletscher der Meeresspiegel an, gleichzeitig könnten steigende Temperaturen den wärmenden Golfstrom versiegen lassen und für mehr Eis sorgen, als uns lieb ist.

Der Drang zur Modernisierung vollzieht sich mit Hängen, Würgen und mäßig diplomatischem Geschick. Seit 21. Juni 2009 sind die Grönländer quasi unabhängig. Grund für die vehement verfolgten Bestrebungen ist in erster Linie das Öl, dann die Fischrechte, die man sich noch mit dem ungeliebten Dänemark teilen muss. Mit dem Öl ist das aber so eine Sache: Man weiß, dass es da ist, aber trotz intensivster Suche wurde noch keines gefunden. Viel haben die Dänen in Grönland falsch gemacht. Sie erstellten 1953 nach der Übernahme von den USA Urbanisierungspläne und siedelten die Einwohner um, steckten sie in Schulen und Fabriken, ohne Rücksicht auf Traditionen und Herkunft. Wie die Ureinwohner in den USA und in Australien versanken auch die Inuit in eine Kollektivdepression. Alkoholismus ist bis heute ein Problem, auch wenn die Plattenbauten nach und nach weggerissen werden. Völlige Unabhängigkeit peilt die Regierung bis 2014 an, was die meisten politischen Experten für illusorisch halten. 3,2 Milliarden Euro zahlt Dänemark weiterhin jährlich an Grönland. Auf sie zu verzichten wird der Regierung schwerfallen.

Die Inuit hingegen sind Jäger geblieben, sie erlegen Robben, Moschusochsen und Eisbären. Die Grönlandhunde sind kein Touristenbluff: Sie werden gebraucht, weil Schneemobile bei der Jagd verboten sind.

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Je weiter nördlich man kommt, umso mehr Eisberge kreuzen den Weg. Dazwischen ziehen Wale vorbei, nachts flackert das Polarlicht. In einen "Fotorausch" verfällt jeder spätestens bei den Eisbergen von Illulisat, verspricht Friederike Bronny, die Geografin an Bord. Sie mahnt: "Zwingen Sie sich, die Kamera beiseitezulegen." Schwer, wenn hunderte Meter hohen Eisberge wie ein Heer mächtiger Schneekönige vorbeiziehen. Der verhängnisvolle Eisberg der Titanic sei von hier aus gestartet, mutmaßt Bronny.

Mit kleinen Booten erkundet man ehrfürchtig die Kalbungsfront. Der gefrorene Schnee reflektiert unter dem bewölkten Himmel weiß, gefrorenes Wasser blau. Mit dem Blaugrau des Meeres genießt man "blaue Stunden" – an einem Ort, wo Zeit plötzlich keine Rolle mehr spielt. (Doris Prieschnig/DER STANDARD/Rondo/27.11.2009)