Fakten hubern: 2008 besuchten sieben Millionen Touristen die Stadt. Ein Rekordwert, der jetzt im Kulturhauptstadtjahr 2010 mit erhofften zehn Millionen Besuchern noch weit in den Schatten gestellt werden soll. Immerhin gilt Istanbul nicht nur als Fixpunkt in Bezug auf Städtereisen, alte Kulturen - und ein durchwegs reiferes Publikum. Die Ottomanen gelten ja bekanntlich nicht nur als pfundsgemütliche Liegemöbel, sondern auch als alte türkische Herrscherriege. Während der letzten Jahre mauserte sich die Stadt allerdings neben pflichtschuldig als imposant zu bezeichnenden Attraktionen wie der Hagia Sophia, der Blauen Moschee, Topkapi oder dem Großen Basar (als Fachmarkt für Dinge, die bei Onkel und Tante im Regal gut verstauben werden) auch zu einer internationalen Partyzentrale für die Jungen.
Unzählige Clubs am Westufer des Bosporus belegen diese Behauptung lautstark. Dazu zählen etwa die nur mit Fähre erreichbare Swimmingpool-Insel des ehemaligen Schwimmclubs Galatasaray sowie der Reina-Club, um die bekanntesten zu nennen. Open-Air-Discos mit angeschlossenem Restaurantbetrieb, die die modischen Vorgaben der in der Türkei äußerlich enorm abstrahlenden Jennifer Lopez im Sinne von handbreiten Porno-Miniröcken, Bleistiftabsätzen, Botox und Silikon und dazugestellten älteren Herren mit Kreditkarte in die Tat umsetzen. Wer für viel Geld bereit ist, dafür zu zahlen, erlebt im Schatten der Asien und Europa verbindenden Bosporusbrücke eine mit dem Taxi absolvierte Staustunde außerhalb des Zentrums der 13-Millionen-Einwohner-Metropole bis hinein in den Vormittag alles, was westliche Dekadenz zu bieten hat. Abgesehen von Geschmack ist Musik nicht alles. Drinnen in der Altstadt steppt der Bär in Lokalitäten wie der Dachterrasse des 360 Clubs oder in diversen schummrigen Kellern mit Livemusik ohnehin fast so heftig und vital wie früher, als die Stadt noch nicht Richtung Europareife von Drogen und Lustig weitgehend befreit wurde.
Restaurierungen und Weiterbestand
Istanbul lässt sich jedenfalls 2010 seine Geschichte einmal mehr vergolden. Insgesamt 350 Millionen Euro fließen auch dank massiver Steuererhöhungen in das Projekt Kulturhauptstadt. Schlanke 30 Prozent davon gehen in das aktuelle Programm selbst - sowie in die Werbung dafür. Stolze 70 Prozent werden für aktuelle Restaurierungen und den Weiterbestand der altbekannten Sehenswürdigkeiten veranschlagt. Dazu zählen die seit zwei Jahrzehnten in Restaurierung befindlichen Deckenfresken der Hagia Sophia, ein während des Ausbaus der für eine Stadt dieser Größe ohnehin bescheidenen U-Bahn-Linie unterirdisch entdeckten alten Hafengeländes - oder auch Folkloristisches wie die tanzenden Derwische.
Schon im Vorfeld von Istanbul 2010 wurden dementsprechend kritische Stimmen laut. Von Korruption und "Bakschisch" ist da selbst in türkischen Zeitungen zu lesen. Kein Wunder, dass einander in Bezug auf die Fördergelder die zwei größten Baufirmen des Landes bekriegen, die dann auch noch das restliche kulturelle Rahmenprogramm gestalten werden. Die Zauberworte lauten "kulturelles Welterbe" und "städtische Projekte". Zu spüren ist davon in Istanbul selbst wenig.
Die Touristen werden auch ohne das nicht ganz überraschend am 16. Jänner mit einem sündteuren Feuerwerk startende Festprogramm weiterhin in die Stadt strömen und den seit Jahrzehnten hingenommenen Verkehrskollaps intensivieren. Immerhin reicht es Wochenendreisenden ja auch meistens, wenn sie neben der Hagia Sophia und Topkapi zum Drüberstreuen abends noch ein wenig saubere kulinarische Unterhaltung in den Restaurants am Bosporus mit nach Hause nehmen können. Fisch wird als ewiges Arme-Leute-Essen übrigens nicht gern gesehen - aber Lamm drüber! Der explodierenden Bevölkerungszahl in Istanbul wird mit diesem Hauptstadtprojekt jedenfalls in keinster Weise Genüge getan.
Nachgestellte Beschneidungszeremonie
Nicht nur dass der asiatische Teil dieser weltweit einzigartig auf zwei Kontinenten angesiedelten Stadt mit Istanbul 2010 nicht einmal negiert wird - was zu zusätzlich bösem Blut führt. Auch das Kulturprogramm selbst lässt alle Wünsche offen. Vor allem dank der zunehmend an internationaler Bedeutung gewinnenden und parallel mit jener von Venedig im November zu Ende gegangenen Kunst-Biennale Istanbul wittern junge türkische Künstler einen Aufwind, der vom Staat in keinster Weise unterstützt wird. Dafür erhalten die tanzenden Derwische, die man ohnehin tagtäglich am Rande des Großen Basars in einem ehemaligen Badehaus erleben kann, aus unerfindlichen Gründen für 2010 mit mehr als 300.000 Euro das Zehnfache der beantragten Fördersumme. Eine in Originallänge 52 Tage lang nachgestellte Beschneidungszeremonie für einen ottomanischen Prinzen aus dem 16. Jahrhundert verschlingt gar vier Millionen Euro. Dass die Türkei für die irischen Multimillionäre Bono und U2 zudem eine Gage lockermacht, nur damit diese im kommenden September in einem Fußballstadion ihren üblichen Geschäften nachgehen können, wirft noch zusätzliches Licht auf ein mediokres Millionenprojekt, das nahe am Sand gebaut wird. Neben einer vom christlichen Mystiker Arvo Pärt verfassten Symphonie für Istanbul, diversen Ausstellungen zum Thema "Türkische Fotografie im Spiegel der Geschichte" oder einer historisch sichtenden Schau zum Thema "Colorful Istanbul" hat man zwar viel Geld organisiert. Der Eindruck, dass es sich hier um schiere Beliebigkeit handelt, die zur Relevanz aufgeblasen wird, bleibt aber.
Interessant allerdings, dass man in Istanbul nun, fünf Jahre nach einem Prozess gegen den türkischen Literaturnobelpreisträger Orhan Parmuk wegen des Tatbestands "Beleidigung des Türkentums" ein "Museum der Unschuld" errichten will, das sich ganz der Poesie widmet. So sind sie, unsere Weltstädte. Langweilig werden sie nie. (Christian Schachinger/Der Standard/rondo/15/01/2010)