50 bis 70 Stunden arbeitet Johanna Kastner an einem Zweiteiler. Die 31-jährige Herrenmaßschneiderin ist eine von wenigen Frauen in einem Gewerbe, für das Wien einmal berühmt war. Das ist leider schon länger her. Das Atelier von Johanna Kastner befindet sich in der Wiener Annagasse 5, 1010 Wien. Tel: 01/512 80 60, www.jkastner.eu

Foto: Lukas Gansterer

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Wenn elegante Damen einander austauschen möchten, rufen sie ihre beste Freundin an oder gehen zum Friseur. Wenn elegante Herren sich die Zeit vertreiben möchten, gehen sie zu ihrem Schneider. Hier kann man reden und sich gleichzeitig etwas Gutes tun. Ein Maßanzug kostet ab 2500 Euro, und von der Haltbarkeit hat er das Potenzial, seinen Besitzer zu überleben. "Bei guter Pflege natürlich", sagt Johanna Kastner und lächelt. Frau Kastner zählt zu den insgesamt 69 Herrenmaßschneidern und -schneiderinnen in Wien, und nicht nur sie hält diesen Beruf für "eine Berufung".

Denn obwohl das Klischee vom Friseur und dem Schneider auf die meisten heutigen Kunden nicht mehr wirklich zutrifft, sei es sicher für manche Herren "ungewohnt", sich ihren Anzug bei einer Frau machen zu lassen. Aber ganz abgesehen von der Geschlechterfrage: "Es passt einfach nicht jeder Schneider zu jedem Kunden", stellt die 31-jährige Grazerin fest, die aussieht und spricht, wie dies Töchter aus gutem Hause tun. Sie trägt kein Maßband um den Hals, und anstelle des üblichen Stecknadelkissens auf dem Unterarm hat sie ihre beiden Handgelenke tätowieren lassen. Links drei Ärmelknöpfe und rechts eine kleine, schwarze Schere.

"Es ist wichtig, dass man dem Schneider vertraut." Wie würde sie den Unterschied zwischen einem Maßanzug und Konfektionsware beschreiben? Was ist zum Beispiel mit den offenen Knöpfen am Ärmel des Jacketts? "Ich erkenne einen Maßanzug sofort an der Linie seines Zuschnitts. Jeder Schneider hat seinen ganz eigenen Schwung. Und das mit den offenen Knöpfen ist reines Show-off. Das gibt es in der Konfektion schon lange."

Ein weiteres wichtiges Merkmal sei, dass man auf den ersten Blick nirgendwo ein Label mit der Marke des Herstellers finde. Der Maßschneider versteckt seinen Namen und das Datum der Auslieferung auf einem kleinen Etikett in der Innentasche des Jacketts. Direkten Kundenkontakt hatte Johanna Kastner zu Beginn ihrer Lehrjahre in England, Italien und Wien nicht. Der findet nämlich nur im sogenannten Zuschneideraum statt. "Beiden großen Maßschneidern macht das ausschließlich der Cutter. Den Schneider selbst bekommt der Kunde dort gar nicht zu Gesicht." Überhaupt sei bei den großen Firmen alles getrennt und anders als bei ihr. Da gibt es "sozusagen für jedes Anzug-Teil einen eigenen Fachmann". Coatmaker, Trousermaker, Cutter - Johanna Kastner hat es sich während ihrer siebenjährigen Lehrzeit zum Ziel gesetzt, dies alles allein zu können.

Nach insgesamt vier Jahren in England, wo sie unter anderem auch bei Denman & Goddard, dem berühmten Schneider aller Eton-Zöglinge, arbeitete, hatte sie schließlich das Gefühl, dass man ihr genauso viel beibringt, dass sie zwar gut zuarbeiten, sich aber nicht selbstständig machen könne. Es folgte ein weiteres Lehrjahr bei Knize & Comp. am Graben, bevor sie sich ihren Traum erfüllte und nach Italien ging.

"Die legen ihre Seele in den Anzug"

Wenn Johanna Kastner dann von Italien bzw. Caraceni redet, bekommt sie glänzende Augen, und um ihre Mundwinkel spielt ein geheimnisvolles Lächeln. "Ich würde mich am liebsten auf den Boden legen vor lauter Ehrfurcht, weil die so schöne Anzüge machen", sagt sie und strahlt den Besucher an wie die Mona Lisa die unwissenden Touristen. Mit einem einzigen Satz erklärt Johanna Kastner die Philosophie der italienischen Maßschneider: "Die legen ihre Seele in den Anzug."

50 bis 70 Stunden arbeitet Johanna Kastner an einem Zweiteiler. Dabei ist ihr Arbeitstag streng eingeteilt. "Von 8 Uhr bis 18 Uhr, wobei mein größter Ansporn ein unfertiger Anzug ist, der da hängt und auf mich wartet." Ihre Kunden bekommt sie "ausschließlich über Mund-zu-Mund-Propaganda".

Und wie schaut ein typischer Maßanzug-Träger aus? Da lächelt Frau Kastner wieder und verrät immerhin, dass ihr ältester Kunde Ende 80 und der jüngste gerade 18 Jahre alt ist. Künstler, Banker, Ärzte und Anwälte seien unter ihren Auftraggebern. Und obwohl sie die Wirtschaftskrise "überhaupt nicht" spüre, hätten sich doch die Berufe ihrer Kunden etwas geändert. Inwiefern? "Im Augenblick kommen mehr Anwälte."

Aber dann plaudert Frau Kastner doch noch ein bisschen aus dem Nähkästchen: Einmal habe ihr ein Kunde, Künstler von Beruf, alte Kaffeebohnensäcke gebracht, und sie sollte daraus einen Anzug nähen. "Das ist ein total hartes Material, sogar Stroh war hineingewebt - richtig Hard-core." Andererseits sei der Auftraggeber ja Maler gewesen, und "der wollte halt gerne eine Leinwand anhaben".

Da sie Herausforderungen liebe, habe sie die Arbeit begonnen. "Der Prüfstein ist mein fünf Kilogramm schweres Bügeleisen. Wenn der Stoff das nicht aushält, wird er nicht angerührt. Am Ende jedenfalls - nach vielen abgebrochenen Nadeln und anderen kleineren Zwischenfällen - sei aus diesen Säcken "ein wunderschöner Anzug" geworden. Und genau dies sei auch das Geheimnis ihrer Arbeit: "Ich habe einen sehr belohnenden Beruf. Aus ein paar unförmigen Stoffballen ist etwas geworden, das seinem Besitzer jeden Tag Freude bereitet." (Bettina Hoyos/DER STANDARD/rondo/22.01.2010)