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Ein halbes Jahrtausend zuvor war der mehr als siebenhundert Kilometer weit gestreckte Inselbogen noch ein eigenständiges Königreich - und Träger der Ryuku-Kultur.

Dreimal täglich greift Oma zur Sake- Bottle. Das erste Mal knapp nach elf, wenn die Show fast zu Ende ist. Bloß von Alki-Zittern keine Spur: Die Alte stellt sich die Flasche lieber auf den Kopf, atmet leise durch, dampft dann pünktlich zum Publikum hinaus - Shinkansen mit Dauerwelle.

Auch das kann man im dämmrigen Licht des offenen Holzhauses sehen, das im Freilichtmuseum Ryuku Mura auf gute alte Ryuku-Zeit macht. Bananenstauden schimmern da zu den Tatami-matten herein. Hastig fallen gelassene Kostüme und Schwerter ziehen eine flüchtige Folklore-Spur. Wer mag, kann neben der alten Mühle braunen Zucker kaufen, flach gepressten Saukopf sowieso. Doch vorher heißt es: Holiday-Foto! Der Ryuku-König muss mit den Touris lächeln, die Shamisen-Spieler halten immerhin die Pythonhaut-Klampfe ins Bild. Wer unter siebzig ist, gilt bestenfalls als Statist.

Wenn japanische Touristen ins südliche Okinawa reisen, tragen sie fertige Bilder im Kopf. Die Exotik schneeweißer Strände spielt eine gewisse Rolle dabei, ferner die chinesisch inspirierte Kost. Aber vor allem müssen Okinawas Alte mit aufs Bild. Mit etwas Glück sogar die 107-jährige (!) Ushi Okushima aus dem kleinen Dörfchen Ogimi, ein im ganzen Land bekannter Coverstar. Als Oba-chan - Oma der Nation - trat sie in japanischen TV-Shows auf, strahlt von Magazin-Covers, wirbt für die giftgrünen, leicht bitteren Goya-Gurken, die man später, in Scheibchen geschnitten und weich gedünstet, zum Okinawa-Frühstück genießt. Kindereien wie das Sakeflaschen-Tänzchen Folk Village überlassen die wirklich Alten lieber den Kids aus der Jungsteinzeit. Getreu dem Motto jenes Steinblocks, der am Strand von Ushi Okushimas Heimatdorf soeben im Frühlingsregen glänzt: "Mit siebzig bist du ein Kind, mit achtzig ein Jugendlicher, und wenn dich die Ahnen mit neunzig in den Himmel rufen, sag ihnen, sie sollen warten, bist du hundert bist."

Ganz privater Jungbrunnen

Richtig geraten: Das ganz im Norden von Okinawa-honto gelegene Ogimi hält den nationalen Rekord in Sachen Langlebigkeit. Ein Drittel der 3500 Bewohner ist über 65 - für das überalterte Japan an sich nichts Besonderes. Aber dazu kommen noch achtzig Neunzig- und zwölf über Hundertjährige, die zwischen dem türkisgrünen Südpazifik und schützenden Berghängen durch Gemüsegärten eines isoliert gelegenen Dorfidylls huschen, routiniert über ganz private Jungbrunnen referieren: Kochbananen gegen Erkältung, Beifuß gegen Fieber, Schweinebauch gegen alles andere. Seit verlässliche Daten - das Melderegister reicht hier 130 Jahre zurück - gepaart mit einer 25-Jahre-Langzeitstudie einen Meilenstein der Altersforschung ermöglichen, staunt die ganze Welt über ein Erfolgsrezept gegen hier kaum auftretende Zivilisationskrankheiten: die aus Algen und Schwarte und ein wenig Farnspitzen zupfen und der salzigen Luft puderweißer Strände komponierte Okinawa-Diät.

Wer sich vor dem Ryuku Folk Village oder dem beschaulichem Ogimi einquietscht, hat in der Regel bereits eine ganz andere Seite des drei Flugstunden von Tokio entfernten Okinawa-Honto - Hauptinsel der Ryuku-Inselkette - kennengelernt. Zittrige Palmwedel und subtropische Schwüle, kollektiv auf Hawaii-Hemden umgestiegene japanische Salary-Men, die im Neongewitter der Pachinko-Parlours auf Holiday-San machen, outen Naha City, das Gateway zum Archipel, als urbanen Amüsierbetrieb. Freilich als einen, der sich auch charmanten Seiten leistet: Das Terrakotta-Grinsen der für Okinawa charakteristischen Dachreiter-Löwen - Stars der lokaler Keramiktradition - zählt dazu. Und das stille Panoptikum des Ichiba-Markts, in dem sich die jüngeren Usancen des Archipels auf Nippes-Dimension heruntergedimmt widerspiegeln: Vintage-Donalds und Tom-&- Jerry-Jackenknöpfe längst aufgelassener Manufakturen finden sich da neben Ahnenschreinen, und kalifornische Pin-up-Aschenbecher zeigen Samurai-Püppchen die Bikini-Mode der Fifties.

Nicht bloß Japan plus Palmenstrand

Schlendert man Nahas Flanierzeile, die Kokusai-dori, entlang, dann tauchen noch weitere solcher US-Infusionen auf: Neben Sushi-&-Sashimi-Modellen ahmen hier ja auch Plastik-Burger den japanischen Stil der täuschend echten Lebensmittel-Displays nach, und nördlich von Naha zeichnen Drive-Thru-Restos und Used-US-Car-Shops das konsumeristische Weichbild zur massiven amerikanischen Armee-Präsenz. Dass das kleine Okinawa drei Viertel aller in Japan stationierten US-Truppen erdulden muss, prolongiert eine lange Liste politischer Ungerechtigkeiten, die mit den hier stattgefundenen, desaströsen Kämpfen - sie wurden auch von japanischer Seite brutal auf dem Rücken der regionalen Bevölkerung ausgetragen - einen traurigen Tiefpunkt erreicht hatte. Dazu muss man wissen: Okinawa ist nicht bloß Japan plus Palmenstrand. Ein halbes Jahrtausend zuvor war der mehr als siebenhundert Kilometer weit gestreckte Inselbogen noch ein eigenständiges Königreich - und Träger der Ryuku-Kultur.

Eine kulturelle Transitzone, die sich auch Asien-Kennern wie ein bizarres Reiserätsel erschließt, sind die Ryuku-Inseln noch heute. Letzteres nicht nur wegen der Alten, die zur Okinawa-Soba-Suppe eine denkbar langsam gebratene Schnitte Schweinebauch über die Soba-Nudeln legen. Okinawa, das bedeutet auch: China, aber ganz ohne Ellbogen. Ferner ein Schuss Bali, allein schon der Erdnuss-Geschmäcker und der plätschernden Akkorde wegen. Und nicht zu vergessen: eine gute Prise Phi Phi Island - sehen die puderweißen Sandstrände und von tropischen Farnperücken bedeckten Kalk-Miniinseln vor den Küsten doch nach thailändischer Strandmode aus. (Robert Haidinger/Der Standard/rondo/21/05/2010)