Unten wachsen die Geröllfelder, doch rund um den Großvenediger ist der Gletscher noch so, wie man es sich erträumt.

Foto: Österreich Werbung/Diejun

Der Blick von der Kürsingerhütte im Salzburger Pinzgau auf die Venedigergruppe legt Tristesse und Schönheit der heimischen Gletscherwelt offen. Wer nach unten schaut, sieht grauen Fels und Geröllfelder, wo noch vor wenigen Jahren alles mit Eis bedeckt war.

In einer Talmulde, die nach der Form des einstigen Eises "türkische Zeltstadt" heißt, ist erst in den letzten beiden Jahren durch Gletscherschmelze ein Eissee entstanden, der den alten Übergang zur Johannishütte in Osttirol blockiert. Und der alte Gletscherlehrweg ist seit langem eisfrei.

Aber wer den Blick nach oben richtet, auf das breite Massiv zwischen Großvenediger (3674 m) und Großem Geiger (3360 m), der sieht blütenweiße Schneefelder, so weit das Auge reicht. Die größte zusammenhängende Gletscherregion Österreichs ist ein vereistes Disneyland für Bergwanderer - ein Ort, an dem man mit relativ viel Komfort und ohne großes technisches Können Gletscher im Überfluss erleben und dabei gleich den vierthöchsten Gipfel des Landes besteigen kann.

Von Neukirchen im Tal geht es zunächst zu Fuß oder mit Taxi durch das Obersulzbachtal bis zu einer Materialseilbahn auf 1930 m Seehöhe, wo die Kernzone des Nationalparks beginnt. Die Seilbahn bringt auf Wunsch die Rucksäcke zur Kürsingerhütte (2558 m), was den Aufstieg über einen steilen Wanderweg oder einen neuen, ausgezeichnet gesicherten Klettersteig deutlich erleichtert.

Die Hütte selbst ist für hochalpine Maßstäbe äußerst geräumig und komfortabel, die Küche ausgezeichnet. Der Neukirchner Emil Widmann führt seit drei Jahren die Alpenvereinshütte, die vor Ostern für Tourengeher öffnet und ab Juni Bergsteiger anzieht. Der Wirt sieht auch im Gletscherschwund etwas Gutes - nämlich die Chance auf einen eisfreien Übergang nach Osttirol, der eine größere Zahl von Fernwanderern auf seine Hütte führen würde.

Derzeit sind noch die Gipfelstürmer in der Mehrheit - Bergerfahrene wie auch Anfänger. Für 152 Euro pro Person bietet Widmann etwa ein Venedigerpaket einschließlich Taxi, Übernachtung, Essen und geführter Tagestour auf den Gipfel an.

Der Normalanstieg auf den Großvenediger ist lang, aber nicht schwierig: Man stapft bloß stundenlang durch den Schnee - das Seil schützt vor Gletscherspalten und hilft auf dem letzten schmalen Grat, der zum Gipfelkreuz führt. Der traumhafte Rundblick vom Gipfel reicht von den Dolomiten und dem Großglockner bis zur Tiroler Nordkette.

Alternative Westgrat

Derjenige, dem diese Route zu wenig anspruchsvoll ist, kann - so wie wir - den exponierten Westgrat besteigen; oder den noch schwierigeren Nordgrat und dann über den Normalweg zur Hütte zurückkehren. Aufbruch ist bei Morgendämmerung, neun oder zehn Stunden später kehrt man erschöpft zur Hütte zurück.

Als "Aufwärmübung" für den Großvenediger empfiehlt Widmann seinen Gästen den Aufstieg auf seinen Hausberg, den nahegelegenen Keeskogel (3291 m), der "alles bietet, was ein 3000er so haben soll" - einschließlich vielen Eises und leichter Felsenkletterei. Und erst nach zwei Nächten auf der Kürsingerhütte - einem Ort ganz ohne Handyempfang - kommt bei den Gästen das richtige Berggefühl auf, ist der Wirt überzeugt.

Beim Abstieg schickten wir die Rucksäcke wieder per Seilbahn ins Tal. Und für die Rückkehr nach Neukirchen nutzten wir Fahrräder, die uns das Taxi zuvor bis zur Talstation transportiert hat. Tausend Höhenmeter rollten wir auf einer gut ausgebauten Schotterstraße an der Post- und an der Berndlalm (beide gleichermaßen idyllisch) vorbei nach Neukirchen - ein entspannender Ausgang für eine aufregende Tour. (Eric Frey/DER STANDARD/Printausgabe/30.07.2010)