Diese Gummi-Stiefel werden nicht im Fetisch-Geschäft angeboten - sondern bei Louis Vuitton: um wohlfeile 670 Euro. Der Absatz ist 30 cm hoch.

Foto: Hersteller

Seinen wirklichen Namen kennen nur wenige. Besser bekannt ist Rick Genest unter dem Namen "Zombie Boy". Als lebende Leiche also. Genau so sieht der 26-jährige Kanadier auch aus: Bis auf ein Bein, einen Fuß und sein Glied ist Genest am ganzen Körper mit Knochen- und Insektenmotiven tätowiert. Seit kurzem steht er sogar im Guinnessbuch der Rekorde: Weltweit hat niemand mehr Tätowierungen als er.

Karriere hat "Zombie Boy" aber nicht in der Fetischszene gemacht, sondern in der Mode: Seitdem ihn Mugler-Designer und Lady-Gaga-Stylist Nicola Formichetti im Internet entdeckte, taucht der Mann, der sich auf den Kopf eine offene Schädeldecke tätowieren ließ, auf Laufstegen, Werbeanzeigen und in Fotostrecken auf. Mode muss er dabei kaum vorführen. Er ist auch so ein gruseliges Gesamtkunstwerk.

"Zombie Boy" ist das markanteste Gesicht in einer Branche, die derzeit so intensiv mit der Fetischszene flirtet wie schon lange nicht mehr. Wobei das Thema alles andere als neu ist: "In den letzten dreißig Jahren hat sich die Mode einen zunehmend "spielerischen" Umgang mit fetischistischen Themen zu eigen gemacht", schreibt die Modetheoretikerin Valerie Steele in Fetisch. Mode, Sex und Macht, einem der Standardwerke zum Thema. Es stammt aus dem Jahr 1996 und war unter dem Eindruck der Plateaustiefel einer Vivienne Westwood, der Lederklüfte eines Azzedine Alaia, der Sicherheitsnadelkleider eines Gianni Versace oder der Korsette von Jean-Paul Gaultier geschrieben worden. Mode aus dem Darkroom.

Perversionen und öffentliche Provokationen

Kleidungsstücke und Accessoires, die lange ausschließlich von sexuellen Subkulturen und im Verborgenen benutzt wurden, hatten seit Mitte der 1960er-Jahre Eingang in die Alltagskultur gefunden. Erst nur bei Jugendkulturen wie den Punks, dann auch auf breiterer gesellschaftlicher Front. Den Anstoß dazu gab in vielen Fällen die Mode. Aus "Perversionen" machte sie öffentliche Provokationen - und erlangte nicht zuletzt auch dadurch eine gesellschaftliche Bedeutsamkeit, die sich in einer Vielzahl von theoretischen Abhandlungen niederschlug.

Eine Jahrtausendwende, viele Fetisch-Revivals und eine Lady Gaga später, sind die Ingredienzien, die früher verlässlich Schamesröte provozierten, jetzt wieder in den Schaufenstern zu finden. Am lautesten schwingt die Peitsche Louis Vuitton. Chefdesigner Marc Jacobs schickte seine Models in Handschellen und mit Reitgerten über den Laufsteg. Von der Venus im Pelz bis zum züchtigen Zimmermädchen, von der Reiteruniform und dem Lackledermantel bis zum Schlüpfer zu Gummistiefeln mit 30-Zentimeter-Absätzen ähnelte seine Show einem Betriebsausflug eines Fetischisten-Clubs: Mode aus dem Handbuch sexueller Abweichungen. Es musste in dieser Saison wahrscheinlich ganz schön oft nachgedruckt werden. Rote Bäckchen muss davon allerdings niemand mehr kriegen. Der Gummi-, Lack- und Ledertick der Mode ist selbst zu einem Fetisch geworden. Hauptsache, die Mode hat irgendwie einen verruchten oder verbotenen Beigeschmack. Welchen genau, das ist dabei nicht so wichtig.

Scheinbefriedigung

Karl Marx analysierte einst den "Fetischcharakter der Warenwelt" und behauptete, dass der Konsum von Gebrauchsartikeln eine Scheinbefriedigung gewähre. Bei Freud ist der Fetisch ein Ersatz für eine Leerstelle. Diese ist in der Mode derzeit deutlich spürbar. Mode ist zu einem globalisierten Spiel geworden, bei dem Designer und Handtaschen nach Belieben auf dem Spielfeld verschoben werden. Wirkliche Player gibt es nur noch wenige, und sie sind mehr am Mammon als an den Produkten interessiert.

Was bleibt, ist die Lust und die Sehnsucht nach Bedeutung und Bedeutsamkeit. Wirkliche Fetischmode umgibt ein heiliger Ernst, sie muss erregen. Danach sehnen sich auch die Designer. Doch dieser Wunsch wird ihnen nicht so schnell erfüllt werden - auch nicht mit einer weiteren Fetischkollektion. (Stephan Hilpold/Der Standard/rondo/16/09/2011)