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Foto: Irina Gavrich

Das Atelier ist eine Wunderkammer: eine, die mit Pappmaschee überzogen ist. Da steht eine Ritterrüstung, und daneben schauen ein paar Lämmer in die Luft. Zwischen all den Leinwänden ragt eine einzelne Hand heraus, ein Skelett hängt von der Decke. Tone Fink heißt der Künstler, der hier am Werk ist. Seit Jahrzehnten überzieht der Mann aus dem Bregenzerwald Alltagsgegenstände mit einem Brei aus Papierschnipseln. Vertrautes wird so zu Unvertrautem.

Dieses Prinzip ist auch Karin Lischka bestens bekannt. Sie spielt eine der Hauptrollen in Karl Markovics Erstlingsfilm Atmen. Ein Streifen, der auf heimischen Landstraßen, spätherbstlichen Friedhöfen, in traurigen Wohnsilos oder einem sterilen Schwimmbad spielt. Alle Schauplätze schauen vertraut aus. Und trotzdem wird man die gesamten 93 Minuten ein Gefühl des Unheimlichen nicht los. Bei jüngeren österreichischen Filmen kommt das öfter vor.

Wie unter einem Brennglas blicken sie oft auf die Banalitäten des Alltags. Im Falle von Margit Kogler, der Figur, die Karin Lischka in Atmen verkörpert, ist das ein anonymes Leben in der Wiener Rennbahnsiedlung, das sich zwischen der Matratzenabteilung von Ikea und den kargen Gängen der S-Bahn abspielt. Viele Worte macht sie nicht, und wenn, sind sie an Banalität oder an Kälte kaum zu übertreffen: "Es war das Beste, das ich gemacht habe in meinem Leben", antwortet sie ihrem 19-jährigen Sohn Roman (Thomas Schubert), als dieser sie fragt, warum sie ihn als Säugling in die Fürsorge gegeben hat.

Mutter in der Pubertät

Seit Jahren ist er in Haft, ein Freigängerjob bei einem Bestattungsunternehmen führt ihn zurück ins Leben - und auf die Türmatte seiner komplett überforderten Mutter. Ihren Sohn hat sie mit 14, vielleicht 15 bekommen, jetzt ist sie Anfang/Mitte dreißig. Ein Alter, das jenem von Karin Lischka entspricht. Damit enden aber auch schon die Gemeinsamkeiten zwischen der Tochter aus einer gutbürgerlichen Familie aus Gersthof und der Bewohnerin einer kargen Plattenbauwohnung. "Was geht in dieser Frau vor?", fragte sich Lischka, denn während der gesamten Drehzeit: "Warum kann sie nicht für ihr Kind da sein?"

Die Antworten, die Lischka in ihrem Debüt als Filmschauspielerin gefunden hat, sind alles andere als eindeutig. Klar ist nur, dass Lischka trotz allem mit viel Empathie auf ihre Figur blickt. "Mein Anspruch als Schauspielerin ist es, einen wirklichen Menschen zu zeigen, kein Klischee. Dafür muss ich mich in ihn hineindenken." Als sie den Film das erste Mal selbst gesehen hat, bei der umjubelten Premiere in Cannes (bei der er auch gleich einen der begehrten Preise einheimste), da hatte sie Tränen in den Augen. So groß die Kälte ist, die dieser Film ausstrahlt, mit so großer Herzenswärme blickt er auf seine Figuren. Das Vertraute und das Unvertraute, der Alltag und seine Abgründe, die Geborgenheit und die Angst liegen bei diesem Film so nahe beieinander wie selten einmal.

Transportiert werden sie durch starke, symbolisch aufgeladene Bilder, in denen sich die Schauspieler manchmal wie in einer perfekten Choreografie bewegen. "Ich habe jede Emotion dieser Margit Kogler in ihrer gesamten Tiefe durchleuchtet", sagt Lischka: "Ihre Sprachlosigkeit machte das aber zu einer echten Herausforderung." Als Theaterschauspielerin ist es Lischka gewohnt, vom Text auszugehen, das funktionierte diesmal aber nicht. Die Komplexität eines Zauberberg oder eines Professor Bernhardi hat ein Filmskript normalerweise nicht. In beiden Theaterstücken (bei den Sommerfestspielen in Reichenau) spielte Lischka während ihrer Ausbildung, anschließend war sie für vier Jahre festes Ensemblemitglied am Wiener Burgtheater. Sie trat in Schlingensiefs Area 7 auf und bei Arbeiten von Jungregisseuren im Kasino. Nebenbei spielte sie auch noch bei den Wiener Festwochen. Seit einiger Zeit arbeitet Lischka jetzt frei. Für das Theater und hin und wieder auch für das Fernsehen.

Beginn am Musical

Dabei wäre Lischka beinahe Musicaldarstellerin geworden. Nach der Matura studierte sie am Wiener Konservatorium Musical, bis sie bemerkte, dass es sie eher zum Schauspiel zog. So wirklich in die Wiege gelegt war ihr diese Laufbahn nicht, weder der Vater (Beamter) noch die Mutter (Hausfrau) üben selbst einen Beruf im kreativen Bereich aus. "Man sagt, dass ich mich als Kind gerne verkleidet und gesungen habe", erzählt Lischka. Auch ihre jüngere Schwester schlug eine Laufbahn im musischen Bereich ein, sie ist heute Gambistin in Brüssel.

"Verkleiden" ist auch das Wort, das Lischka in der Wunderkammer des Tone Fink verwendet. Im Film trägt sie eine Jogginghose zu Moonboots und einer Daunenjacke. Zwischen den Pappmascheemasken und -figuren schlüpft sie dagegen in Mode von Chanel bis Jil Sander. Weder das eine noch das andere ist Lischkas Welt. Doch auch zum Kosmos der Margit Kogler hatte sie wenige Berührungspunkte. Eine unvertraute Welt. Sie machte sie trotzdem zu der ihren. (Stephan Hilpold/Der Standard/rondo/07/10/2011)