Hermann Bahlsen war stolz. Der Firmenchef aus Hannover fand, sein Keks schmeckte nicht nur vortrefflich, sondern sah auch noch sehr gut aus. Das Gebäck zeigte an den flachen Rändern rundherum genau 52 kleine Zähnchen. 1891 brachte Bahlsen die zackige Knabberästhetik das erste Mal auf den Markt.
Das Design von damals ist immer noch erfolgreich, aber mittlerweile ziemlich altbacken. In der Keksbranche bestimmt immer mehr der Schein das Sein. Es kann gar nicht kurios und knallig genug sein. In der Keksschale auf der modernen Kaffeetafel liegen daumendicke Brocken mit hellblauer Glasur und einer filigranen Teigschneeflocke obendrauf drapiert. Daneben quietschgrüne, aufrecht stehende Weihnachtsbäume mit silbrig-süßem Lametta. Besonders bunt treibt es die dänische Firma Agnes Cupcakes. Pink, Hellgrün, Rosa, Zitronengelb - keine Farbe ist zu grell, keine Kreation verrückt genug. Omas Kekse heißen jetzt Cakes. Der zuckrige Trend aus den USA begeistert die Kunden nicht nur im hauseigenen Kopenhagener Café. Wie in der skandinavischen Hauptstadt bieten kleine Bäckereien in ganz Europa neben ihrem eigenen aufgeploppten, grellen Gebäck Promotion-Knabbereien an. Bei hippen Firmen liegt bei Geschäftsmeetings dann Süßes im Corporate-Identity-Look auf. Der letzte Schrei auf dem Konferenztisch sind Qkies. Kekse mit aufgeklebtem Esspapier, auf den QR-Codes prangen. Das sind die kleinen digitalen Bildchen, die meist wie ein Labyrinth aussehen und oft auf eine Webseite führen. Lesen sie diese mittels Smartphone, wissen Manager im günstigsten Fall dann, in welches Restaurant zum nächsten Geschäftsessen geladen wird.
Formen-Fortschritt
Selbst in den zweihändigen Manufakturen am hauseigenen heimeligen Herd zieht der Formen-Fortschritt ein. Zwar sind Kleeblatt, Mondsichel und Tannenbaum weiterhin gern genommener Standard. Zimtsterne sehen immer noch wie Sterne aus, und Vanillekipferln haben ihre charakteristische halbrunde Figur. Doch selbst beim weihnachtlichen Keksebacken liegen nun nach Zimt duftende Palmen, Alligatoren oder Fußbälle auf dem Gabentisch. Unter den Neuheiten auf dem Ausstechformen-Markt sind in diesem Jahr Weizenbierglas, Zirkuszelt und das Siegerpodest.
Robert Kapeller aus Wien verkauft vor dem Heiligen Fest wie eh und je Sterne, Herzen und Nadelbäume. Der absolute Renner ist eine zerlegbare Form für die beliebten Linzeraugen. Doch gibt es beim Chef der Firma Heinrich Maier auch Hände, Füße und einen Sechsfach-Ausstecher mit Federung, der die Plätzchen gleich auswirft.
Die Wiener Kexfabrik offeriert neben dem Österreichkex einen Dom- und einen Mozartkex, aus gelötetem Weißblech. Wer es ganz exklusiv braucht, bestellt die vergoldete Variante oder leistet sich einen handgefertigten Haydn für stolze 19 Euro - um den Keks-Kopf des Meisters bei seinem Trompetenkonzert Es-Dur genüsslich zu verspeisen.
Kamera, Kirche, Königskrone, Hydrant, Hummer, Holländer-Windmühle, Pharao, Piratenschiff oder Präsident Lincoln, fast scheint es nichts zu geben, was es nicht gibt. Und wenn doch einmal die richtige Fan-Form fehlt, empfehlen Autofreunde im Tuning-Forum Flach- und Kombizange. Damit wird im nun aus einem Hasen ein Automobil.
Cyberhelden real vernaschen
Wer im Winter von seinem letzten Inselurlaub oder der großartigen Städtereise träumen will, kauft sich die Kanaren, Mallorca oder Sylt im Edelstahlrand oder beißt in den Hamburger Michel, den Wiener Stephansdom oder die Kathedrale von Barcelona.
Sogar die Internetverrückten, deren Leben sich nur in der virtuellen Welt abspielt, können ihre Cyberhelden real vernaschen. Für die Nerds bieten Verlage und Plattformen Ausstechformen für die beliebtesten Spielfiguren an, selbstverständlich inklusive eines @-Zeichens.
Die fragilen Förmchen haben allerdings ihre Tücken. So kann die Vorfreude auf eine Mecklenburger Pfeffernuss im Elchgewand ganz schnell in Frustration enden. Die so sorgsam angebrachten Augen des Tieres sehen zwar schön aus, lassen den Teig aber entweder zerbröseln oder haften an ihm fest.
Selbst behaarte Körperteile sind kein Tabu mehr. Weil der Schnurrbart das spießige Image der Rotzbremse aus den 1970er-Jahren mittlerweile verloren hat, können Heimbäcker nun den männlichen Flaum ausstechen. Sogar Frauen und Kinder haben nun die einmalige Chance, werben die Hersteller, ihren Lieblingsschnauzer zu kreieren - in doppeltem Sinn. Auf der Rückseite der welligen Weißblechform drückt ein Stempel die feinen Nuancen der Bartfrisur auf den Teig. Nicht unbedingt Familien-Festtafel-kompatibel ist ein Dreier-Set aus rostfreiem Stahl, das ein Online-Erotikshop anbietet. Siebeneinhalb, achteinhalb und zehn Zentimeter messen die Ausstechformen für Penis-Kekse. (Oliver Zelt/Der Standard/rondo/16/12/2011)