Inspiriert, intelligent, leidenschaftlich - aber auch respektlos: Für den "New Yorker" hat der Guide des Food-Journalisten Cammas die französische Küche in ähnlicher Weise verändert, wie es der Nouvelle Vague mit dem Film gelungen war.

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Alexandre Cammas: Kein Koch - aber die französische Küche hat er verändert.

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DER STANDARD: Bei französischer Küche denken viele nur an klassische Haute Cuisine, bei einem französischen Restaurantführer nur an Michelin. Inwiefern ist "Fooding" da anders?

Alexandre Cammas: Wir waren erschöpft von dem Konservativismus, der Frankreichs Küchen beherrschte. Irgendwann versuchten doch alle, sich als Gourmetlokale zu verkleiden. Dem haben wir Fooding entgegengesetzt, eine Wortkreation aus Food und Feeling: Kreativität statt Klischee, Emotion statt Etikette. Und vor allem: gutes, variantenreiches Essen, eine Küche, die in Bewegung bleibt. Außerdem ging es uns darum, die künstliche Trennung zwischen Bistro-Küche und Haute Cuisine aufzuweichen.

DER STANDARD: Also das, was unter dem Begriff Bistronomie passiert? Da hat sich in den vergangenen Jahren tatsächlich viel getan.

Cammas: Natürlich freuen wir uns, dass fast jede Woche ein begabter Koch ein Lokal eröffnet, in dem man gut und für weniger als 50 Euro essen kann. Außerdem, und auch das ist ein wesentlicher Unterschied, wird heute auch in In-Lokalen oft sehr gut gekocht. Und: Selbst in Paris isst man inzwischen vielerorts sehr gut und günstig. Aber natürlich gibt es auch Trittbrettfahrer, darunter arrivierte Küchenchefs, die glauben, sie können neben ihren Luxustempeln auch ein kleines Bistro aufmachen, um auf den Trend aufzuspringen. Die wahrhaftig guten Lokale von den zahlreichen Fakes zu unterscheiden - das ist die Herausforderung.

DER STANDARD: Alles, was mit Essen zu tun hat, liegt heute sehr im Trend. Haben Sie manchmal das Gefühl, nur ein Teil dieses Trends zu sein?

Cammas: Es stimmt, dass im Trend die Gefahr liegt. Schuld daran haben auch diese ganzen Fernsehshows mit ihren übercoolen Köchen. Natürlich ist einer nicht gleich ein guter Koch, nur weil er tätowiert und unter vierzig ist und sich den Schädel rasiert. Hier werden die Fehler der Vergangenheit wiederholt. Zunehmend ersetzen der kahlrasierte Schädel und die Tattoos die Kochhauben und die blauweißroten Krägen der Kochjacken unserer Väter. Sie werden zum Symbol des Bluffs, und das gilt es aufzudecken.

DER STANDARD: Wie soll man sich ein typisches Fooding-Lokal vorstellen?

Cammas: So etwas gibt es nicht. Es geht uns um Vielfalt. Unsere Tester müssen sich beim Verlassen eines Lokals fragen: Würde ich wiederkommen? Und wenn ja, beschreiben, warum. Wie bei guter Musik, einem guten Buch, einem guten Film geht es um eine besondere sensorielle, sinnliche und sentimentale Erfahrung. Die kann man in vielen Arten von Lokalen erleben, nicht aber in solchen, die schummeln oder kopieren.

DER STANDARD: In Ihrem Führer finden sich extrem viele sehr unterschiedliche Lokaltypen. Was muss ein Lokal eigentlich können, damit es nicht aufgenommen wird?

Cammas: Wie gesagt geht es um Authentizität und Kreativität und nicht um "copy and paste". Wir mögen Lokale, die eine Nachfrage schaffen - nicht solche, die einer Nachfrage entsprechen.

DER STANDARD: Was denken Sie über die Entwicklung der Restaurantszene in anderen Ländern?

Cammas: Begonnen hat alles in London. Die Briten hatten es insofern leichter, als es keine Tradition gab, von der man sich hätte befreien müssen - die konnten ganz unbekümmert an die Neuerfindung der britischen Küche herangehen. Heute gibt es überall ganz tolle Lokale, vor allem in den großen Städten tut sich viel. Auch in Spanien hat es bis vor einiger Zeit eine tolle Entwicklung gegeben, doch leider haben sich die Köche dort bald in Codes eingesperrt - und Codes sind immer schlecht. Wenn auf einmal alle Molekularküche betreiben, wirkt das sehr gezwungen. Darum hat diese Art der Küche auch keine Zukunft und wird - wenn überhaupt - nur durch extrem reiche und ziemlich dämliche Gäste überleben. Italien hingegen ist immer noch dort, wo Frankreich vor zehn Jahren war: in der totalen Stagnation. Dort gibt es entweder die klassische Trattoria mit Hausmannskost oder das verkrampfte Luxusrestaurant, und nichts dazwischen. Es ist erstaunlich, zu beobachten, wie heute Köche in New York oder Paris - ob sie nun italienischstämmig sind oder nicht - mit all diesen tollen, italienischen Produkten umzugehen verstehen; nämlich oft sehr viel besser als die Italiener selbst.

DER STANDARD: Wie zum Beispiel?

Cammas: Nehmen sie ein Produkt wie die italienischen Tomaten. Da haben sie eine Vielfalt gutschmeckender Sorten in allen Farben. Ein italienischer Koch wird zwar damit arbeiten, er wird aber nicht auf die Idee kommen, da ein paar Stückchen Pfirsich hineinzumischen.

DER STANDARD: Wäre das denn so erstrebenswert?

Cammas: Das sollte nur ein Beispiel sein, das zeigt, dass auch die italienische Küche zu sehr in Codes verhaftet ist - und ihr sowohl der Mut als auch der Humor fehlt. Aber: Schon allein wegen der Krise werden sich auch in Italien die Dinge bald ändern, die Entwicklung ist einfach nicht aufzuhalten.

(Der Standard/rondo/20/01/2012)