Wien - "Was sich am meisten verändert hat, ist die Außenpolitik." Diese Einschätzung der politischen Lage nach rund eineinhalb Jahren Präsidentschaft von Luiz Inacio "Lula" da Silva hat am Dienstag der brasilianische Soziologe und Theologe Ivo Lesbaupin in einem Interview mit der APA in Wien geäußert. In wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht hat der Machtwechsel im Oktober 2002 nach Ansicht des Experten bisher kaum wirkliche Verbesserungen gebracht. In Brasilien, dem "vielleicht ungleichsten Land der Erde", würden arme nach wie vor weitaus mehr zur Kasse gebeten als reiche Bürger.

Sein sozialdemokratischer Vorgänger Fernando Henrique Cardoso habe sich "sehr unterwürfig hinsichtlich dessen gezeigt, was die USA wollten". "Lula" sei hingegen deutlich gegen den Krieg im Irak aufgetreten. "Das erschien zum damaligen Zeitpunkt sehr mutig von ihm, denn die meisten anderen Länder wollten ihren Widerspruch nicht klar zum Ausdruck bringen." Bei der Ministertagung der Welthandelsorganisation (WTO) Mitte September des Vorjahres in Cancun habe Brasilien ebenfalls eine "unabhängigere Haltung" eingenommen. Dies sei der "interessanteste Teil" der Politik "Lulas". Der problematischste Teil sei die Wirtschaftspolitik. "Lulas" Regierung führe zur Überraschung der Mehrheit seiner Wähler den Kurs von Cardoso fort.

Negatives Wachstum

"Diese Politik hat uns alle überrascht." Der ehemalige Schuhputzer aus ärmsten Verhältnissen sei auch gewählt worden, um einen Bruch mit der früheren Politik herbeizuführen. Das ist ihm offenbar nicht gelungen. Als Beispiel nannte Lesbaupin die Steuerreform. "Das Schwerwiegende ist nicht, was gemacht wurde, sondern, was nicht gemacht wurde": Maßnahmen zur Verringerung der Kluft zwischen Arm und Reich.

Das Resultat dieser Politik: Das Wirtschaftswachstum sei 2003 mit einem Wert von minus 0,2 Prozent seit 1992 erstmals wieder negativ gewesen. Auch die Arbeitslosigkeit sei im Vergleich zur Regierungszeit Cardosos weiter gestiegen und betrage nun 12,9 Prozent. "Die sozialen Folgen sind also sehr schwerwiegend". Die Regierung habe ihre Reformen zunächst damit gerechtfertigt, dass sie international Glaubwürdigkeit aufbauen müsse und sich in einer wirtschaftlich schwierigen Lage befinde. Schließlich sei aber klar geworden, "dass es sich nicht um eine Politik des Übergangs handelt, sondern um die Wirtschaftspolitik der Regierung", erklärte der Soziologe.

Auf die Frage, ob die Maßnahmen der Regierung zur Armutsbekämpfung nicht eher kosmetischer Natur seien, verwies Lesbaupin auf Erfolge des Programmes "Fome Zero" (Null Hunger), das mittlerweile eineinhalb Millionen Familien versorge. Mit eigenen Aktionen würde beispielsweise auch der Analphabetismus bekämpft. "Ursprünglich hatte man geplant, das komplementär zum Wirtschaftswachstum und der Schaffung von Arbeitsplätzen einzusetzen, aber jetzt, für sich, ist es eine Politik der Kompensation", sagte Lesbaupin. Auch wenn das Programm tatsächlich innerhalb der nächsten Jahre die Grundbedürfnisse der Ärmsten der Armen decken könnte, "löst das nicht das Problem", betonte der Experte.

Laut Lesbaupin gibt es realistische Gegenvorschläge zur derzeitigen Wirtschaftspolitik. Im Juni des Vorjahres hätten 306 Intellektuelle, vorwiegend Wirtschaftswissenschafter, in einem Manifest ein Sieben-Punkte-Programm zu Veränderungen in der Wirtschaftspolitik vorgelegt und zum Beispiel vorgeschlagen, die Kapitalflucht aus dem Land zu kontrollieren. Im Dezember sei ein Buch erschienen, das auf die Fehler der Wirtschaftspolitik "Lulas" aufmerksam mache. "Man hat die Wahl", betonte Lesbaupin.

Derzeit verfüge der Präsident überraschenderweise noch immer über rund 70 Prozent Unterstützung in der Bevölkerung, doch die Kritik an seiner Wirtschaftspolitik nehme zu. "Die Menschen glauben immer noch an 'Lula'", sagte der Soziologe. "Ich bin überzeugt davon, dass sich die Politik nur unter einem gewissen Druck ändern wird - unter dem Druck der Sozialbewegungen, der Kirchen, der Gewerkschaften. Wenn die Bevölkerung denkt, dass sie auf die Straße gehen und protestieren muss. Dann wird die Regierung wissen, dass sie so nicht weitermachen kann", erklärte der Experte, der als Dominikanerpater zur Zeit der Militärdiktatur vier Jahre im Gefängnis verbrachte. Ewig werden die Brasilianer "Lula" nach Ansicht Lesbaupins allerdings nicht mehr Zeit geben. (APA)