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Immer komplexere und aufwändigere Behandlungsabläufe vermitteln den Eindruck einer immer ausgeklügelteren Therapie.

Foto: Reuters/ALADIN ABDEL NABY

Das irreführend "Gesundheitswesen" genannte Medizinsystem ist in Wirklichkeit ein System des Krankheitsmanagements, in dessen Spielregeln Gesundheit so gut wie nicht vorkommt. Es lebt von der Vermehrung von Leistungen an Kranken, nicht von Gesundheit. Und davon lebt es recht gut: Keine Branche hat in den vergangenen Jahrzehnten derart geboomt, die Wachstumsraten und Erträge stellen Autoindustrie und Dienstleistungsgewerbe in den Schatten. 22 Milliarden oder elf von 100 in der gesamten österreichischen Volkswirtschaft erwirtschafteten Euros fließen zu Kliniken, Ärzten, Pflegeeinrichtungen und Arzneiherstellern. Die Kosten steigen seit Jahrzehnten stärker als das Brutto-Inlandsprodukt. Sie werden bei anhaltendem Trend unweigerlich die Grenzen der Finanzierbarkeit überschreiten.

Budgetzerreißende Ambivalenz

Einer von neun österreichischen Dienstnehmern bestreitet den Lebensunterhalt damit, kranken Menschen Hilfe und andere Leistungen angedeihen zu lassen. Neben Abzockerei und Gewinnstreben in herausragendem Ausmaß sind auch soziales Engagement und Gemeinschaftssinn vorhanden, und das bei einer großen Zahl der Beteiligten, die aber nicht an den Steuerknüppeln des Systems sitzen.

Und genau in dieser budgetzerreißenden Ambivalenz zwischen Ethik und Profit bewegt sich das Medizinsystem. Es kann sich in der Zukunft zur aus Kostengründen rationierten Hightechmaschinerie oder zum Lebensqualität sichernden Ort des sozialen und psychischen Ausgleiches entwickeln. Gab ein Durchschnittsbürger 1960 noch knapp 150 Euro für medizinische Dienstleistungen aus, so kostete ihm zur Jahrtausendwende das Medizinsystem in Österreich schon 2700 Euro pro Jahr.

Fortschritt

Angesichts des Fortschrittes der Medizintechnik und der dadurch immer älter werdenden Menschen sei das unausweichlich, werden die Lobbyisten des Medizinkartells nicht müde zu behaupten. Doch das so erfolgreich nach außen vermittelte Selbstbild, die auf Reparatur von defekten Körperfunktionen ausgerichtete Medizin habe die Lebensjahre der Bevölkerung wundersam vermehrt, ist schlicht falsch und hat auch branchenintern längst tiefe Risse. Dass die durchschnittliche Lebenserwartung in den vergangenen vier Jahrzehnten um neun Jahre gestiegen ist, wird oft als Argument für die Sinnhaftigkeit des Riesenaufwandes verwendet. Der Großteil dieses Zuwachses wurde freilich durch die Reduzierung der Kindersterblichkeit und das Verschwinden der Infektionskrankheiten als Todesursache für jüngere Menschen verursacht.

Ein 65-Jähriger darf sich heute durchschnittlich gerade auf ein um zwei Jahre längeres Seniorenleben freuen als sein Altersgenosse in den 1960er-Jahren. Und schon vor hundert Jahren sind die wenigen Menschen, die 60 wurden, auch nicht viel früher gestorben. Anders gesagt: Heute erleben 90 Prozent der Menschen in den Industriestaaten ihren 50. Geburtstag, vor hundert Jahren waren es nur 50 Prozent.

Doch diese eindrucksvolle Verschiebung ist vor allem den Lebensbedingungen und nur zu 15 bis 20 Prozent medizinischen Interventionen zu danken, wie umfassende US-Studien ergaben. Es sticht ins Auge, dass dort, wo ein einfacher, aber massiver Eingriff von außen oder der Mangel an einer einzelnen Substanz im Körper zu einem Gesundheitsproblem führt, die Erfolge der Medizin am größten sind. Schwerste Unfälle mit daraus resultierendem Multiorganversagen können dank Unfallchirurgie und Intensivmedizin überlebt, Gelenke und Körpersäfte ersetzt werden.

Wo aber ein komplexer Prozess im menschlichen Körper zu einer langwierigen Krankheit führt, ist die Medizin heute annähernd so hilflos wie früher. Dem Herztod und dem Krebs, den großen Killern der Industriegesellschaft, hat die moderne Medizin bisher trotz enormen Aufwands im Wesentlichen nur Hinhaltendes entgegenzusetzen, auch wenn immer größere Diagnosegeräte und komplexere Behandlungsabläufe den Eindruck einer immer ausgeklügelteren Therapie erwecken.

In ihrem Streben, einzelne Laborparameter, menschliche Moleküle und Genfunktionen beeinflussen zu können, haben die Mediziner längst den Überblick über das Ganze verloren. Die enorme Vertiefung des Wissens über Abläufe im Körper bis in die Bestandteile der Zellen wird weniger zum Verständnis der komplexen Prozesse genutzt, die zu einer Krankheit führen, sondern fast ausschließlich, um ein Agens, ein Gen, ein Molekül zu finden, das Schuld hat und dessen Ausmerzung den heilenden Segen bringt.

Der Mensch ist aber kein simples Räderwerk, sondern ein enorm differenziertes, lebendes System. Es gibt dennoch einen eindeutigen und prägenden Zusammenhang zwischen steigender Lebenserwartung und Kostenentwicklung im Medizinbetrieb. Der Anteil der Menschen über 60 Jahren an der Gesamtbevölkerung steigt deutlich an. Und genau diese Personen sind das Zielgebiet der meisten medizinischen Interventionen, seien es Routineuntersuchungen oder daraus resultierende Behandlungen. Somit ist eine weitere Ausweitung der Gesundheitsbudgets zwangsläufig, wenn sich an Art und Inhalt des Betriebes nichts ändert.

Dazu kommt, dass die Menschen der einzelnen Altersgruppen insgesamt zwar wahrscheinlich gesünder sind als noch einige Jahrzehnte zuvor (dass es darüber weltweit keine genaueren Befunde gibt, ist für sich schon ein Symptom massiver Fehlsteuerungen). Aber da der Anteil älterer Menschen deutlich höher ist, nehmen chronische Erkrankungen dennoch an Häufigkeit zu. Die Zunahme dieser Erkrankungen verteuert das System und vermiest die Lebensjahre. Rheuma, Diabetes, Allergien, psychische und Autoimmun-Erkrankungen sind im Vormarsch: Zur Jahrtausendwende waren bereits 20 Prozent der Menschen in Österreich chronische Patienten, ein Jahrzehnt davor waren es noch 15 Prozent. Der Medizinbetrieb reagiert fast ausschließlich mit der teuren Symptomkur der Verordnung von Arzneimitteln. Dementsprechend galoppieren die Kosten.

Bloße Kostendämpfung reicht nicht

Es geht also - will man gängige Standards zumindest beibehalten und nicht radikal rationieren, indem ganze Bevölkerungsgruppen von Leistungen ausgeschlossen werden - nicht um Kostendämpfungsmaßnahmen im Prozentbereich. Und es geht auch nicht um Kostenbeteiligungen der Patienten oder andere Schröpfungsaktionen. All diese "Reformen" sind Stückwerk, das den Kostendruck maximal ein, zwei Jahre ein wenig dämpft. Es geht um eine Analyse der vorhandenen Leistungen und um eine Analyse der Abläufe in der Gesundheitsindustrie auf ihre Sinnhaftigkeit und Effizienz. Und da ist einiges zu holen, quantitativ ebenso wie qualitativ. (DER STANDARD, Printausgabe 20./21.03.2004)