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Foto: Reuters/Fritz
Berlin - Am Fleische hängt, zum Fleische drängt doch alles - auch im jüngsten Buch des in Berlin lebenden Autors Thor Kunkel. "Sexistenz", so Kunkels bevorzugter Neologismus, heißt folgerichtig der Schlüsselbegriff des Romans Endstufe. Neben dem Drehen - und Verkaufen - drittklassiger Pornofilme gilt die Obsession seiner männlichen Protagonisten dem weißen Fleisch einer ebenso blonden wie 18-jährigen und zur körperlichen Liebe hoch begabten Prostituierten.

Nicht wenige lassen während der knapp 600 Seiten auf deren Fährte jämmerlich das Leben. Über die Kondition, durchzuhalten bis zum Schlusssatz des Romans, verfügt nur einer der Jünger des Priap. Er allein erfährt die finale Verkündigung: "Wahrlich, mein Geliebter, du hast Anlass zu großer Freude - denn siehe, ich bin das jubelnde Fleisch."

Amen. Dass Thor Kunkels Roman bereits Monate vor seinem Erscheinen eine für das Genre der Splatter- und Kolportageliteratur eher unübliche mediale Aufmerksamkeit zuteil wurde, ist der zeitgeschichtlichen Verankerung des Plots geschuldet: Endstufe spielt überwiegend im Hitler-Deutschland der Jahre 1941 bis 45. Seine Boudoir-Helden gehören ausnahmslos einer wissenschaftlichen und finanziellen Elite der nationalsozialistischen Gesellschaft an, für deren kleinbürgerliche Wertvorstellungen und deren Rassenwahn sie nur müde Gleichgültigkeit empfinden.

Weshalb die Verbrechen des Nationalsozialismus, vor allem der Holocaust, allein im Bewusstsein des Lesers existieren, im Buch jedoch auf einige wenige Bemerkungen reduziert sind, denn "die Verfolgung der Juden hielt man zwar für einen Skandal, aber als Thema restlos passé".

Rowohlts Nein

Zum Skandal wurde das Buch, als Alexander Fest, der neue Leiter des Rowohlt Verlags, in dem Kunkel seine Bücher seit Jahren publiziert, sich im Jänner "aus ästhetischen und inhaltlichen Gründen" weigerte, Endstufe zu verlegen. Fests Weigerung zog heftige Spekulationen nach sich. Schnell wurde der 41-jährige Kunkel, der nach seinem phänomenalen Debüt mit dem preisgekrönten Roman Schwarzlicht-Terrarium seit Jahren als eine der größten literarischen Begabungen seiner Generation galt, als Rechter, im Spiegel gar als potenzieller Auschwitz-Leugner verurteilt - und das, obwohl kaum ein Journalist das Manuskript kannte.

Allein aus diesem Grund ist dem Eichborn Verlag zu danken, der den Roman nun herausbringt. Von heute an ist das umstrittene Buch im Handel erhältlich. - Und es ist weit weniger ein kulturpolitischer Skandal als schlicht das klägliche Scheitern eines Autors an seinem Thema.

Glaubt nämlich Thor Kunkel noch heute (siehe unten stehendes Interview), mit seinem Roman einen aufklärerischen Beitrag geleistet zu haben, indem er die Wurzeln einer heute eskalierenden "Wissenschaftsreligion" im Dritten Reich offen legte, bleibt in Endstufe von Wissenschaft wenig mehr als der Protagonist, Karl Fussmann, Chemiker im SS-Hygieneinstitut, der seine ehrgeizige Forschung an einem Mittel zur Malariabekämpfung schon nach wenigen Seiten der Liebe zur Prostituierten Lotte opfert.

Im Zentrum des Romans steht vielmehr der trashige Plot um Fussmann und seinen Chef Ferfried Graf Gessner, genannt Ferrie. Mithilfe des Kameramanns Holsten und des Gynäkologen Waldemar F. Pfister (den eine körperliche Verunstaltung ebenso charakterisiert wie die Liebe zu Hirschkäfern und einer artifiziellen Vagina) filmen sie in einer Hütte unweit des Obersalzbergs in Berchtesgaden billige Pornofilme, um sie mit hohem Gewinn in Schweden gegen kriegswichtiges Eisenerz zu tauschen.

Oder bei den Scheichs gegen Erdöl. Der zweite Teil des Romans nämlich verlegt die Handlung in die nordafrikanische Wüste, wo er endgültig Comicqualitäten gewinnt: Wiederholt entkommt Fussmann mithilfe eines mysteriösen Knaben Anschlägen auf sein Leben. - Was ihm im Nachkriegsfinale des Buchs Gelegenheit gibt, ins "Lotterland" der Liebe zurückzukehren und mit Lotte in Las Vegas eine lukrative Strip-Show zu betreiben - bis dass der Tod sie scheidet.

Schwere Schieflage

Dennoch: Mag man den Roman als geschmackloses Groschenheft lesen, mag man auch Kunkels Gedanken folgen, die zynische Amoral jener dekadenten "Elite" durch ihre vollkommene Ignoranz gegenüber den Gräueltaten der Nationalsozialisten darzustellen, so kippt das Buch gegen Ende doch in bedenkliche Schieflage - während nämlich Kunkel seine Nazi-Helden durchaus nicht ohne Sympathie mit der genreüblichen Amoral ausstattet, sie vom Rassenwahn der kleinbürgerlichen Umgebung distanziert und die Präsenz des Nationalsozialismus überhaupt im Wesentlichen auf die schicken SS-Uniformen von Hugo Boss reduziert, findet er für die Verbrechen der Alliierten, für Bombenangriffe, Hiroshima, Vergewaltigungen durch russische Soldaten deutliche Worte.

Thor Kunkel also ein Auschwitz-Leugner? Wohl kaum. Vielmehr ein wenig differenzierter Antiamerikanist. Ins Amerika von heute zielt die nationalsozialistisch kos- tümierte Farce. Denn wie zitiert er Malaparte: "Unsere amerikanischen Verbündeten sind es, denen ich die heilige Fackel des Faschismus übergeben habe! Von den fernen Gestaden Amerikas aus wird sie auch weiterhin die Welt erleuchten."

Vor allem aber ist Thor Kunkel ein einst begabter Autor in schwerster Sexistenzkrise.(Cornelia Niedermeier/DER STANDARD, Print-Ausgabe, 31. 3. 2004)