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Stetig und beharrlich, wie diese Läufer, arbeiten "kulturell kreative" Menschem an Entstehen einer neuen Ethik der gegenseitigen Hilfe.

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Als komplexes Netzwerk von Hilfe und Unterstützung, das den einzelnen Menschen ermuntert, möglichst selbstbestimmt mit seiner Lage fertig zu werden - so beschreibt der letzte Teil der Serie das Ziel einer neuen und sozial verantwortlichen Heilkunst.

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Das Gesundheitssystem ist keine "Megamaschine". Die derzeitigen, reformbedürftigen Finanzierungsweisen sind der Grund dafür, dass es für eine soziale Dienstleistung, ein Krankenhaus oder eine Arztpraxis profitabel ist, was der Ökonomie des Gesamtsystems schadet. Je aggressiver heute ein Orthopäde seine Abrechnungstechniken ausschlachtet, desto schneller gehen die Gelenke der Bevölkerung kaputt.

Viele Mediziner, Krankenschwestern und Angehörige anderer Heilberufe wollen lieber heute als morgen aus diesem bösartigen und ungesunden Kreislauf aussteigen. Sie reflektieren ernsthaft die vorherrschende geistige Orientierung, stellen das Menschenbild der mechanistischen Medizin infrage, suchen neuen Sinn für ihr Handeln und bemühen sich, auch die seelische Dimension des Systems zu berücksichtigen. Die Menschen im Gesundheitswesen, die Krankenhäuser, die Arztpraxen und die sozialen Dienste müssen jetzt tatsächlich lernen, kooperativ miteinander umzugehen und das Gesundheitssystem als Netzwerk zu gestalten.

Das Wuchern stoppen

Die Konfliktlandschaft der Akteure in der laufenden gesundheitspolitischen Reformdebatte gleicht demgegenüber einer kämpferischen Ansammlung von Krebszellen, die aggressiv und rücksichtslos möglichst viele Vorteile aus dem Gesamtorganismus des Gesundheitssystems ziehen wollen.

Die Gesundheitssysteme der europäischen Gesellschaften stehen alle vor derselben grundlegenden Weichenstellung. Die entscheidende Frage lautet: Wollen wir ein Gesundheitssystem, das optimalen sozialen Gewinn bei möglichst günstigem gesellschaftlichem Ressourceneinsatz anstrebt, oder wollen wir ein Gesundheitssystem, das maximale individualisierte Profite ermöglicht und den kranken Menschen als Objekt für das Geschäft betrachtet?

In einem sozialen Gesundheitssystem müssen sich die Subsysteme dem gemeinsamen Ziel, also preiswerte Gesundheit für alle, unterordnen. Die globale Zielsetzung hat Rückwirkung auf die Gestaltung der Finanzierungs-und der Versorgungssysteme.

Gruppenegoistische Leistungsausweitungen im Versorgungssystem ohne Rückkoppelung mit dem Gesamtnutzen führen zwangsläufig zu einer Krise der Finanzierungssysteme. Die gegenwärtigen gesundheitspolitischen Reformdebatten vernachlässigen die systemischen Wechselwirkungen und zeichnen sich durch diffuse oder verschleierte Zielsetzungen aus.

Aber an einem führt kein Weg vorbei: Klinikbetten müssen abgebaut, viele Eingriffe in den ambulanten und teilstationären Bereich verlegt werden. Und das nicht zu knapp: Deutschland und Österreich haben immer noch fast doppelt so viele Krankenhausbetten wie zum Beispiel die Niederlande.

Nicht unbeträchtliche Risken

Das ist nicht nur teuer, sondern auch ungesund: Jeder Spitalaufenthalt bringt auch ein nicht unbeträchtliches Gesundheitsrisiko mit sich. Es bleibt eine Schlüsselfrage, mit welchen Steuerungsinstrumenten und Rahmenbedingungen das Gesundheitswesen ausgestattet sein muss, um modernisierbar und den komplexen Anforderungen gerecht zu werden.

"Wie würde es funktionieren, wenn das medizinische System schlankes Denken einführen würde?", fragen James Womack und Daniel Jones im Buch "Auf dem Weg zum perfekten Unternehmen". Als Erstes würde "der Patient in den Mittelpunkt gerückt werden, und Zeit und Bequemlichkeit wären die zentralen Leistungsmaßstäbe des Systems. (. . .) Als Nächstes würde das medizinische System seine Abteilungsstruktur überdenken und sein Expertenwissen auf mehrfach qualifizierte Teams übertragen. Die Idee dabei wäre sehr einfach: Wenn der Patient von einem mehrfach qualifizierten Team, das in einem gemeinsamen Raum arbeitet - oder einer "Zelle" in der Sprache der Produktion -, in das System aufgenommen ist, wird ihm ständige Aufmerksamkeit und Behandlung gewidmet, bis das Problem gelöst ist."

Es geht also darum, ein individuelles Versorgungsmanagement mit hoher Kreativität, Kommunikationsbereitschaft und Beziehungsfähigkeit umzusetzen und individuelle "Gesundheitsprodukte" herzustellen. Dafür muss allerdings die Finanzierung des Systems ebenso wie seine gesamte Struktur komplett umgestellt werden: Eine neue "Gesundheitsversicherung" müsste prozentuell vom Einkommen eingehoben werden und alle Leistungen finanzieren. Ärzte und anderes medizinisches Personal müssten nach der aufgewendeten Zeit bezahlt werden, Leistungsanreize müssten mit der schnelleren Wiederherstellung der Gesundheit verbunden sein. (Details siehe unten.)

Das künftige Leitbild der Ärztinnen und Ärzte soll also eine Medizin für den ganzen Menschen sein, die selbstverständlich somatische, psychische und kulturelle Aspekte integriert. Die meisten Menschen, die zum Arzt kommen, leiden an funktionellen Krankheiten, psychosomatischen Störungen oder chronischen Gebrechen, denen mit symptomatischer Medizin nicht gut geholfen ist. Die Gefühle von Angst beispielsweise suchen sich vielfältigen körperlichen Ausdruck, egal ob sie durch Arbeitsverlust, Beziehungskrisen oder mangelnde Lebensperspektiven ausgelöst werden. Im Wertschöpfungsprozess Gesundheit ist eine Angstbekämpfung mit Herzkathetern und Computertomografen eine Ressourcenvergeudung oder eine Scheinleistung.

Der Hausarzt und der Krankenhauspraktiker sind zunehmend herausgefordert, für Menschen mit körperlichen, seelischen und sozialen Problemen einen selbstständigen und selbstbestimmten Alltag anzubieten und zu gestalten. Sie müssen im Einzelfall ein gesünderes Leben trotz Behinderung organisieren helfen und Versorgungsnetze für ihre Patienten bereitstellen.

Diese umfassende und immer wieder besondere Hindernisse überwindende Heilkunst erfordert Kreativität, Kommunikations- und Beziehungsarbeit: ein individuelles Versorgungsmanagement oder individuelle "Gesundheitsprodukte".

"Kulturell kreativ"

Die Leistungen von Medizin und Pflege umfassen eben ein komplexes Netzwerk von Hilfe und Unterstützung. Medizin und Pflege muss den einzelnen Menschen ermuntern, möglichst selbstbestimmt und selbstverantwortlich mit seiner Lage fertig zu werden. Gesundheit heißt Autonomie für die betroffene Person: Autonomie trotz eines körperlichen, seelischen oder sozialen Handikaps. Autonomie ist also das "Produktionsziel" einer sozial verantwortlichen Heilkunst.

Die Voraussetzungen für einen solchen grundlegenden Wandel sind im Entstehen: Wie in der gesamten Gesellschaft wächst auch unter den Angehörigen der Medizinberufe der Anteil der "kulturell Kreativen", wie US-Soziologen die Gruppe der umfassenden Erneuerer bezeichnen. Die "Modernisten", die unverbrüchlich an den technologischen Fortschritt glauben, sind auch im Medizinbetrieb immer noch in der Mehrheit und suchen nach gentechnischen und biochemischen Lösungen, die Traditionalisten, also die Konservativen verhalten sich skeptisch bis passiv, aber die einzig stärker werdende Gruppe setzt auf andere Werte.

In der österreichischen Gesellschaft zeichnet sich wie in den anderen entwickelten Staaten ein grundlegender Wertewandel ab, der von Horst-Eberhard Richter als Abkehr von der Egomanie beschrieben wird. Neben der wahrlich intensiver werdenden Ellbogenkultur der Modernisten mit ihren auch medial überpräsenten Ausformungen geben immer mehr Menschen an, weniger darauf aus zu sein, andere zu übertreffen. Sie wünschen sich mehr Nähe, erleben sich auch als liebesfähiger und die Verantwortungsbereitschaft wächst. Das neue "Wir"-Gefühl geht in die Richtung von sozialer Offenheit und gegenseitigem Vertrauen.

Auftrieb für Reformer

Die "kulturell Kreativen" sagen, was sie denken, und tun, was sie sagen. Sie kultivieren Empathie und Sympathie für andere, fordern eine ganzheitliche Medizin und propagieren eine neue Ethik des gegenseitigen Helfens. Der schnell wachsende Anteil der "kulturell Kreativen" an der Bevölkerung Österreichs liegt gegenwärtig zwischen 25 und 30 Prozent. Im Medizinbetrieb sind sie wahrscheinlich sogar noch höher repräsentiert.

Wenn diese Gruppe für die Gesundheitsrevolution als nachhaltiges Reformprojekt die Stimme ergreift, werden Politik, Standesvertreter der Ärzte und die Kassen-Bürokratien sie hören müssen. (DER STANDARD; Printausgabe, 31.3.2004)