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Foto: APA/Gindl
Wien - Manche Leserinnen und Leser werden sich noch daran erinnern, dass Eric Kandel vor vier Jahren den Nobelpreis für Medizin oder Physiologie bekommen hat. Wie diese Information bis heute in ihren Gehirnen geblieben ist - genau das ist das Problem, für dessen Erforschung dem aus Wien stammenden US-Neurowissenschafter, der 1938 vor den Nazis hatte fliehen müssen, die Ehrung zuteil wurde: Kandel untersucht an der Columbia University, welche Spuren etwas, das man sich merkt, auf der molekularen Ebene hinterlässt.

Man vergisst allerdings vieles wieder, und nur manches bleibt einem über längere Zeiträume gewärtig. Nun ist Kandel der Frage nach dem Langzeitgedächtnis (LTM) einen möglicherweise entscheidenden Schritt näher gekommen. In der US-Fachzeitschrift Cell veröffentlichten er und sein Team einen Beitrag, der die perpetuierenden Mechanismen von LTM aufzeigt.

Bestimmte Proteine (Eiweiße), die durch eine Signalübertragung an den Synapsen (Schaltstellen) von Nervenzellen aktiviert werden und diese Kontaktpunkte verstärken, sind bereits bekannt; man weiß auch, dass sie zumeist nach kurzer Zeit wieder zerfallen - der Mensch wäre sonst von eingelangten und gemerkten Sinneseindrücken völlig überschwemmt.

In manchen der Proteine fanden die Forscher aber eine besondere Sequenz von Aminosäuren, die offenbar dafür sorgen, dass die Gedächtnis-Eiweiße erhalten bleiben. Das Erstaunliche daran: Die Aminosäurensequenzen sehen aus wie jene Prionen, die für den Rinderwahnsinn BSE verantwortlich sind. Die Verformung zu Prionen, sagt Kandel im Gespräch mit dem STANDARD, "kann man als Mechanismus sehen, durch den ein Protein dauerhaft wird. Indem es die Form des Proteins verändert, kann es zudem eine Kettenreaktion auslösen. Das wiederum kann, wie in den Hirnen von Rindern oder bei Menschen - Creutzfeldt-Jakob -, zu tödlichen Krankheiten führen. Oder es tut etwas Nützliches, wie im Fall von LTM."

Nicht immer schädlich

Nach Versuchen mit Prionen in Hefezelllösungen ist Kostudienautorin Susan Lindquist zur Ansicht gelangt, dass die Funktion des "Umkrempelns" der Prionen ein grundsätzlicher und keinesfalls immer schädlicher biologischer Prozess ist. Die Veröffentlichung hat viele enthusiastische und einige kritische Reaktionen ausgelöst. Er verstehe die Skepsis, sagt Kandel, schließlich stünden sie erst am Anfang einer neuen Gedächtnistheorie.

Doch einer seiner Kritiker, Joel Richter von der University of Massachusetts in Worcester, arbeitet mit ihm nun an Merk-Experimenten mit Mäusen, nachdem die meisten Versuche bisher an Kandels "Lieblingstier", der nervenzellenmäßig sehr brauchbaren Meeresschnecke Aplysia californica, stattgefunden haben. Eine grundsätzliche Gedächtnisschranke zwischen wirbellosen und Wirbeltieren findet Kandel als Argument unsinnig: "Die Natur hält sich bei der Weiterentwicklung an bewährte Mechanismen."

Das Unternehmen Memory Pharmaceuticals, dessen wissenschaftlichem Beirat er vorsteht, hat bereits Gedächtnismedikamente im klinischen Stadium, allerdings noch nicht für LTM. Hier könnte sich noch eine andere Forschungsrichtung auftun: Dass der Mensch alles Mögliche über kurz oder lang doch wieder vergisst, dürfte nämlich ebenfalls an einem aktiven Neuroprozess liegen. Raphael Mechoulam in Tel Aviv erforscht ihn seit langem, die im Hirn vorkommenden Cannabinoide sind seinen Ergebnissen zufolge für die Reduktion von LTM-Inhalten mitverantwortlich. Eine andere Baustelle, und Eric Kandel denkt an einen Besuch mit möglicherweise merklichen Folgen. (Michael Freund/DER STANDARD, Print-Ausgabe, 7. 4. 2004)