Bei Licht betrachtet ist der Zustand der EU ziemlich ernüchternd. Die Erweiterungsrunde verkommt fünfzehn Jahre (!) nach dem Fall des Eisernen Vorhangs dank Abschottung aller letzten Schlupflöcher am Arbeitsmarkt zu einer Übung in Kleinmut.

Der Aufstand der Nettozahler tut das Übrige, um den Neuen klar zu machen, dass sie nur zähneknirschend im Klub der Reichen aufgenommen werden.

Die wirtschaftliche Entwicklung grundelt weiter dahin, Deutschland bleibt der kranke Mann Europas, der Aufschwung nimmt sich mehr als müde aus. Bald haben wir mehr Defizitsünder als Defizitheilige, aber über den Stabilitätspakt will keiner reden.

Der große Verfassungsentwurf ist im Gezerre um Stimmrechte festgefahren. Und als ob die Suppe nicht schon versalzen genug wäre, bricht eine Ära des Terrorismus an, die Europa schwer belasten wird.

Dieser erbarmungswürdige Zustand einer großen Vision wurde in den 80er-Jahren als Eurosklerose tituliert. Nach der damaligen Erweiterung ging der Mut zur Einheit verloren, bis Maastricht schließlich Anfang der 90er den einheitlichen Wirtschaftsraum mit seinen vier Freiheiten schuf - leben, arbeiten, handeln und zahlen, wo immer man will.

Es scheint fast eine Gesetzmäßigkeit der Union zu sein, zwischen himmelhoch jauchzend und tief betrübt zu schwanken, und derzeit neigen sich Stimmung und Handeln wieder dem unteren Ende der Skala zu.

Aber mit nunmehr 25 Mitgliedern und den unvermeidlichen Reibereien dieser Anpassung kann aus dem Tief leicht ein Dauerzustand werden. Dabei hat die EU die Wahl zwischen zwei Geschwindigkeiten - aber nicht eines Kern- und eines Randeuropa, sondern nur zwischen vorwärts und rückwärts.

Vorwärts würde zum Beispiel bedeuten, die Strukturen "schlanker" zu machen, wie es neudeutsch so schön heißt - aber die Konflikte um Stimmrechte und Kommissare werden im klassisch schlechten Kompromiss durch Aufblähung gelöst.

Vorwärts würde bedeuten, politische Zugeständnisse durch eine Öffnung der Arbeitsmärkte und ein Ende der finanziellen Drohgebärde der Nettozahler zu erreichen.

Ohnedies ist die leise Panik in letzter Minute vor dem Beitritt nicht zu verstehen: Die Wirtschaft der zehn Neuen wächst doppelt so schnell wie die des "alten" Europa. Den heimischen Unternehmen hat die Expansion in die Nachbarregionen in den vergangenen beiden Jahren die Bilanzen gerettet - warum also plötzlich der Wankelmut?

Auch die beschworene Migrationswelle ist weit und breit nicht in Sicht. Dazu fehlt es in den Beitrittsländern an Mobilität. Wie übrigens auch bei den Mitgliedern, deren Bevölkerung anders als in den USA auch nicht in die Staaten mit geringerer Arbeitslosigkeit drängt.

Und die mobilen unter den neuen EU-Bürgern sind ohnedies schon da, müssen weiter in der Illegalität arbeiten, dürfen aber paradoxerweise rechtens hier leben.

Ein Beitrag zu neuem Schwung wäre darum, aus dem zögerlichen Öffnen doch noch eine herzlichen Umarmung zu machen: Durch ein Neuaufrollen der letzten Integrationsbarrieren im Zusammenhang mit der europäischen Verfassung.

Und weil wir schon dabei sind, Barrieren niederzureißen: Der Aufholprozess der Neo-EU-Mitglieder wird teilweise aus Neuverschuldung finanziert werden. Denn diese Staaten (und ihre Bevölkerung) sind deutlich geringer verschuldet als die EU-15.

Sie können darum nach den gelungenen inneren Reformen der vergangenen Jahre guten Gewissens in ihre öffentliche und private Infrastruktur mit etwas Pump investieren.

Die Gefahr ist aber, dass sie demnächst unter die Fuchtel des Stabilitätspakts gestellt werden - und ihr dynamisches Wachstum abgewürgt wird. Die Reform des Stabilitätspakts wird darum zur vorrangigen Aufgabe der neuen Kommission in diesem Herbst.

Auch im Interesse der alten Mitglieder, die sonst an seinen Regeln zu ersticken drohen - und das bisschen Aufschwung mit ihnen. (DER STANDARD Printausgabe, 08.04.2004)