Wien - Höhepunkt war der Kakao. Samy Molcho hat seit 50 oder mehr Jahren keinen mehr getrunken, den genauen Zeitpunkt konnte er nicht mehr eruieren, vermutlich war das Erlebnis des vorerst letzten Schluckes kein wirklich einschneidendes. "Toll, da kriegt man einen Kakao", sagten er und sein Körper. Insofern bekam dieser Samstagnachmittag doch noch einen Sinn.

Professor Samy Molcho ("bitte lassen Sie den Professor weg, ich bin Samy") hat zum Fußball ungefähr so eine intensive Beziehung wie Ottfried Fischer zum Marathonlauf oder DJ Ötzi zum Gesang. Er ahnte nicht einmal, wo das Hanappi-Stadion liegt und warum es überhaupt existiert, er fragte nach der Adresse, wollte wissen, ob es dort Parkplätze gibt. Aufgrund eines groben verbalen Missverständnisses war er der irrigen Annahme, dass Real Madrid an diesem Samstag in Hütteldorf kickt, was ihn auch nicht groß aufgeregt hätte. Er konnte also mit Rapid und Bregenz durchaus leben, weil es ihm völlig egal war. Wobei er Rapid schon mit einem Fußballverein assoziierte, Bregenz mit einer Stadt in Vorarlberg.

Hat einer Samy Molcho vor oder neben sich, steckt derjenige im Dilemma. Er möchte nämlich nicht nur nicht blöd fragen (das gilt freilich für jeden Gesprächspartner), sondern er will dabei auch nicht besonders blöd aus- und dreinschauen. Später sollte Samy gesagt haben: "Ihr Händedruck war kurz und fest. Sie halten sich an Abmachungen." Am Gang war trotz orthopädisch bedenklicher Spreizfüße wenig auszusetzen, die eher kurzen Schritte zeugten davon, "dass Sie zielorientiert sind und nicht nach Balance suchen müssen."

Zweimal ist Samy schon im Stadion gewesen, einmal in Israel, einmal in Südafrika, er hat es vergessen und verdrängt, sogar der vorletzte Kakao hinterließ nachhaltigere Spuren. "Mir graut vor Massenansammlungen. Auch das Oktoberfest ist schrecklich, dabei ist die kollektive Lustigkeit strafverschärfend." Molchos prinzipielle Fragen zum Fußball: "Wie lange dauert so ein Spiel?" "Warum ist der Ball silber?" "Wer ist Rapid?"

Die Umarmung

Natürlich sei nicht alles am Fußball verwerflich. "Dinge sind erlaubt, die sonst verpönt sind. Hier im Stadion ist es legitim, dass sich Männer umarmen. Und es gibt innerhalb der Mannschaft einen Teamgeist. Der gemeinsame Erfolg zählt, jeder braucht die Gruppe, das Ensemble ist wichtig. Genau wie im Theater." Die Ästhetik des Fußballspiels sei zwar eine begrenzte, "aber Hut ab, die laufen hundert Meter dauernd auf und ab. Es ist schon ein bisschen stumpf."

Samy machte mit. Er mimte den Begeisterten, als es besonders fad war. Den Entsetzten, als es nicht einmal angefangen hatte. Den Fanatischen, als es ruhig war. Den Jubelnden, als endlich kein Tor gefallen ist. Und den Gleichgültigen. Letzterer kam der Wahrheit wohl am nächsten. "Das schafft jeder. Da muss man kein Pantomime sein. Jeder kann seinen Körper spielerisch einsetzen. Auch, um zu täuschen."

Ein Bregenzer fiel nach einem zu vernachlässigenden Kontakt mit einem Rapidler um, krümmte sich im Gras. "Der hat nichts. Er spielt nur, schaut, ob der Schiedsrichter reagiert. Der wird gleich wieder aufspringen." Und er sprang. "Ich bin kein Psychiater, der die Menschen analysiert. Ich schaue sie nur an."

Der volle Westsektor hatte es Molcho besonders abgetan, das kollektive Hupfen in den grün-weißen Uniformen, die Schlachtgesänge, die gleichgeschalteten Bewegungen, "einfach schrecklicher Kriegsersatz. Sie reißen ihre Arme hoch, legen ihre Bäuche frei, zeigen, dass sie unverwundbar sind. Sie werden zu einem Körper, verehren ihre Helden. Das Ganze ist nicht echt. Aber ich verstehe schon die gesellschaftliche Notwendigkeit." Mit seiner Einstellung zum Leben habe ein Stadion samt Fußball nichts gemein. "Mir geht es darum, mich zu entfalten. Ich musste nie besser als ein anderer sein." Sein Vater habe ihn Folgendes gelehrt: "Du bist ein Baum. Hast du sieben Blätter, schau, dass du ein achtes bekommst. Trägt ein Baum neben dir 10.000 Blätter, ist das seine Sache. Das hat nichts mit dir zu tun."

Das Erlebnis

Da saß eine Haufen unorganisierter Fans nicht unweit des Professors, für einen Laien schauten sie dämlich oder auch gescheit drein, für Samy "warten sie auf ein Erlebnis, das ihnen wieder nicht geliefert wird. Wie so oft im Leben."

Pause. Samy, so der Hobbykörpersprachenforscher, machte einen entspannten Eindruck. Sein Blick verriet Neugier. "Wenn Sie wollen, Samy, können Sie heimfahren, die Einladung war zeitlich nicht begrenzt." Sein Blick verriet Erleichterung, ein letzter Schluck Kakao.

Samy Molcho sagte, "dass es der Fußball auch ohne mich schaffen wird". Kurzen Schrittes verließ er das Stadion. Ein Zeichen von Bestimmtheit. Herr Molcho wird bestimmt nicht wiederkommen. (DER STANDARD, Printausgabe, Montag, 19. April 2004, Christian Hackl)