Als es vor zehn Jahren zum ersten Mal so weit war, herrschte Panik unter den Weißen. In den Supermärkten gab es wegen der Hamsterkäufe kaum noch Lebensmittelkonserven. Kerzen und Batterien wurden knapp. Die Angst vor einem Bürgerkrieg war vor allem in den reichen weißen Vorstädten fühlbar, brave Bürger verließen das Land, weil sie nach Jahrzehnten des institutionalisierten Rassismus die blutige Rache der Unterdrückten fürchteten. Das Land stand in den internationalen Schlagzeilen - Südafrika am Ende der Apartheid, als vor zehn Jahren zum ersten Mal demokratisch gewählt wurde.

Nur zehn Jahre später erregen demokratische Wahlen in Südafrika niemanden mehr, obwohl der Afrikanische Nationalkongress (ANC) in der vergangenen Woche an den Urnen eine solide Zweidrittelmehrheit erreichte und damit eigentlich die ärgsten Befürchtungen der damaligen Skeptiker wahr wurden.

Allein dass Wahlen in Südafrika heute so unspektakulär, so wunderbar routiniert sind, ist schon ein enormer Erfolg für die Umgestaltung der Gesellschaft, die der ANC in Angriff genommen hat. Drei von vier Wahlberechtigten nützten ihr Stimmrecht, das politische und rechtsstaatliche Fundament Südafrikas ist stabiler geworden.

Das darf natürlich nicht da^rüber hinwegtäuschen, dass die politischen Trennlinien in Südafrika sich immer noch an der Hautfarbe orientieren, eine geeinte Nation ist am Kap der Guten Hoffnung noch nicht entstanden. Achtzig Prozent der Schwarzen wählten den ANC, weil dieser für ihre Befreiung vom Joch der Apartheid gekämpft hatte. Die Weißen, die Mischlinge und die Inder in Südafrika wählten die Demokratische Allianz, die sich nach der vernichtenden Niederlage der "Neuen Nationalpartei" - einst für die Apartheid verantwortlich - als kommendes Oppositionszentrum herauskristallisiert.

Die Regierung von Thabo Mbeki, der das Präsidentenamt 1999 von der ANC-Ikone Nelson Mandela übernommen hatte, kann auch wirtschaftlich einige schöne Erfolge vorweisen. Die Inflation wurde gebremst, das Wirtschaftswachstum lag in den letzten zehn Jahren durchschnittlich bei 2,8 Prozent, 1,4 Millionen Häuser gebaut, die Wasser- und Stromversorgung verbessert und Afrikas größter Wohlfahrtsstaat errichtet. Südafrika ist ein Vorbild für den ganzen afrikanischen Kontinent und darüber hinaus. Das honorierten die Wähler: Dankbarkeit ist in Südafrika noch eine politische Kategorie.

Trotzdem bleibt angesichts der Übermacht der ehemaligen Befreiungsbewegung zumindest ein zwiespältiges Gefühl, das nicht zuletzt mit der Person des Präsidenten zusammenhängt. Thabo Mbeki mag ein geschickter Taktiker sein. Doch im Vergleich zu Nelson Mandela wirkt er kalt.

Für Mbeki ist Aids beispielsweise ein gesundheitspolitisches und damit ein finanztechnisches Problem, aber keine menschliche Tragödie. So etwas befremdet in einem Land, in dem die Krankheit in der nächsten Dekade zu einer veritablen Katastrophe mit verheerenden wirtschaftlichen Folgen führen wird.

Mbeki ist ein hervorragender Technokrat, aber Südafrika braucht nach wie vor auch einen Versöhner wie Mandela. Das Land ist weit entfernt von der Vision einer Multikultigesellschaft, in der Schwarz und Weiß gleichberechtigt zusammenleben. Die Rassen leben nebeneinander und aneinander vorbei; die möglichen Berührungspunkte werden gering gehalten. Die "Regenbogennation" gibt es nur in der Werbung.

Für den ANC wird es in den kommenden Jahren entscheidend sein, wie schnell er die Lebensqualität der Masse der armen Schwarzen verbessern kann, von denen fast jeder Zweite arbeitslos ist. Die für uns Europäer unvorstellbare Kriminalität muss bekämpft werden. Auch muss die ehemalige Befreiungsbewegung beweisen, dass die Macht sie nicht korrumpiert. Schafft der ANC das nicht, wird er auseinander brechen und in eigenständige politische Parteien zerfallen. Aber auch das wäre ein Zeichen von demokratischer Normalität. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 20.4.2004)