Alle wollen lange Texte schreiben. Gut sein müssen aber die kurzen: In diesem Satz Richard Reichenspergers spiegelt sich das Textverständnis eines Wissenschafters und Journalisten, der wie selten jemand der verständlichen Qualität verpflichtet war.

Deshalb schrieb er ganz große Textstücke, wie zuletzt jene im Februar über Theodor W. Adorno genauso gerne wie die ganz kleinen der Watchlist im STANDARD. Deshalb hat er Bücher geschrieben und eine Dissertation über Robert Musil verfasst, gleichzeitig aber Titel in unserer Zeitung erfunden, die von so vielen Lesern als "grenzgenial" verstanden werden.

Richard Reichensperger ist Donnerstagabend an den Folgen eines Sturzes gestorben. Irgendwie hat sich in seinen schnellen Bewegungen, in seinem beschleunigten Arbeitsstil stets etwas gespiegelt, was man nachträglich als ein komprimiertes Leben interpretieren könnte.

Der gebürtige Salzburger hat zwei Doktorate erworben. Das eine in Rechtswissenschaft, das andere in Literatur- und Religionswissenschaften. Von ihm stammen Hunderte Aufsätze und Artikel, mehrere Bücher, er war mehrere Jahre Mitarbeiter der Akademie der Wissenschaften, er war Junior Fellow des Instituts für Kulturwissenschaften in Wien. Und eben immer, seit 1989, einer der wertvollsten Mitarbeiter des STANDARD.

Einer, bei dem man als Chefredakteur komplizierte journalistische Projekte gut aufgehoben wusste. Eben auch deshalb habe ich sofort an ihn gedacht, wenn es haarig wurde. Und fast jedes Jahr die Kulturredaktion gefragt, ob "der Reichensperger" wohl da sei, wenn der Literaturnobelpreis ausbricht.

Eine der ganz großen Schriftstellerinnen, Ilse Aichinger, hat Freitag vor vierzehn Tagen über ihren Lebensfreund Richard Reichensperger im STANDARD geschrieben. Zart und respektvoll zugleich, betroffen von einer Duplizität des Schicksals, weil sie ihren Sohn unter ähnlich tragischen Umständen verloren hat. Ihre von Hand geschriebenen Kolumnen hat er jede Woche, den Technologiesprung vor Augen, in einen der Textschirme des STANDARD getippt. Er, der sie nach langen Jahren des Schweigens wieder zum Schreiben gebracht, der zu ihrem 70. Geburtstag im S. Fischer Verlag ihre Werke herausgegeben hat. Damit ist zugleich Reichenspergers publizistische Kraft markiert. Weil er jemand war, der Ideen umsetzen konnte.

Seine Solidarität galt, neben anderen, auch Hermes Phettberg, dem er über existenzielle und finanzielle Engpässe hinweghalf. Sie galt ganz privaten Freunden, etwa um dem Kind einer Einwanderin das Recht auf eine bessere Schule zu verschaffen.

Dass Reichensperger ein Börsenspezialist war, ist der Chefredaktion zu spät bekannt geworden. Nicht auszuschließen, dass wir ihm eine Geldkolumne der ganz anderen Art zugetraut und daher angeboten hätten. Seine Beratertätigkeit im Bekanntenkreis soll jedenfalls etlichen zu Geld verholfen, keinen aber in den Ruin getrieben haben.

Viel hat er in sein Leben hineingepackt. Und das meiste wieder ausgegeben. In Form von Zuwendung, Intellektualität und journalistischer Brillanz. Persönlich blieb er bescheiden und heiter.

In der Redaktion des STANDARD wird er allein deshalb in unseren Gesprächen bleiben, weil nicht selten der Satz auftauchen wird: "Richard hätte gesagt". Oder einfach: "Dazu hätten wir den Reichensperger gebraucht." Denn der Journalismus hat genau jene Qualitäten nötig, die er verkörpert hat. Schwer Durchschaubares zu erklären. Und überhaupt: aufzuklären.

Wir trauern mit seinen Angehörigen und seinen Freunden. (Gerfried Sperl/DER STANDARD; Printausgabe, 24./25.4.2004)