Die EU war innerhalb der letzten zehn Jahre eine Vergleichskategorie, ein Maßstab für unsere Gesellschaft. Als die slowakischen Bürger Vladimír Meciar zweimal zum Ministerpräsidenten wählten, fragte keiner nach dem Denken der Bürgermehrheit. Die einzige Frage war, was nun Brüssel sagen würde. Die nachfolgende Regierung von Mikulás Dzurinda schlug einen eindeutigen EU-Kurs ein. Als schon einigermaßen klar war, dass das Land sich zumindest in die Richtung der Europäischen Union bewegt, die notwendigen Reformen durchführt und den Stil der Politik ändert, fing man an, alltägliche Dinge mit den EU-Normen zu vergleichen. Zum Beispiel die Dicke der Wasserleitungen, die Erzeugung von Milchprodukten oder die Vorschriften zur Sicherheit am Arbeitsplatz. Weltspitzennation Die einzige Sache, die man nicht mit EU- Maßstäben verglich, war der Sport. Schließlich dachten wir, dass wir mit dem Gewinn der Eishockey-Weltmeisterschaft und einiger olympischer Goldmedaillen ohnedies nicht nur zur EU gehören, sondern eine Weltspitzennation geworden sind. Als klar war, dass wir den EU-Beitritt sozusagen schon in der Tasche haben, entstand die Frage: Und was geschieht mit dem Prinzip unserer nationalen Souveränität? Können wir es überhaupt noch bewahren? Plötzlich war anstatt der Wasserleitungsnorm unser Nationalstolz wichtig. Und überhaupt: Was können wir in die EU mitbringen? Fleiß, Gastfreundschaft oder Ehrlichkeit Da haben wir nach Beispielen unter den gegenwärtigen EU-Mitgliedsstaaten gesucht. Was haben wir, was sie nicht haben, und womit wir in der EU erkennbar wären? Am häufigsten hörte man Begriffe wie Fleiß, Gastfreundschaft oder Ehrlichkeit. Das sind doch aber viel zu einfache Kategorien, die außerdem jede Nation besitzt! Wir haben unsere deutschen Freunde beneidet, die niemand an Pünktlichkeit übertrifft, ebenfalls die Schotten, weil sie auch in der EU ruhig geizig sein dürfen. Oder die Holländer, die ihre Tulpen in Massen züchten und Marihuana rauchen, was jeder weiß. Einige haben auf unseren Bryndza-Käse gesetzt. Später mussten wir feststellen, dass er aus Rumänien stammt. Trotzdem - die Schutzmarke hat sich die Slowakei registrieren lassen. Ein ganz normales Leben Auf jeden Fall lebten wir die ganze Zeit über völlig normal. Die Leute gingen in die Arbeit, einige haben sie verloren, was am Anfang ein unbekanntes Gefühl war. Wie die älteren sagen, seien die Kinder immer frecher. Aber das hat doch schon Aristoteles festgestellt, dass die junge Generation frecher ist als die ältere. Die kleinen Tante-Emma-Läden sind durch die Konkurrenz der Hypermärkte verschwunden, was uns sehr lange Öffnungszeiten gebracht hat. Die Leute ziehen in die Städte, weil es dort mehr Arbeitsmöglichkeiten gibt und das Leben angeblich bequemer ist. Mit der Errichtung einer weiteren Fabrik wird die Slowakei zum relativ größten Autoerzeuger in der Welt, momentan aber mit dem niedrigsten Durchschnittslohn in Europa. Nun, wir wissen nicht, ob es die Folge des EU-Beitritts, der Globalisierung oder der generellen Zivilisationsentwicklung ist. Fehler und positive Seiten Außer dem registrierten Bryndza-Käse haben wir wunderschöne Berge, viele einzigartige Höhlen, sehr gute Weine, wertvolle Mineralquellen und angeblich schöne Frauen. Dann gibt es viele freundliche Menschen, aber paradoxerweise häufig nicht funktionierende Dienstleistungen, die gerade von den Menschen abhängen. Im Telekommunikations- und IT-Bereich halten wir, bis auf die Zahl der Internetanschlüsse, Schritt mit Europa, und im Osten des Landes leben Leute in Holzhütten ohne fließendes Wasser. Was die bisherige "Lösung" des Roma-Problems betrifft, hätten wir keinen Anspruch auf EU-Mitgliedschaft. Jedenfalls freuen wir uns auf alle, die die Slowakei besuchen wollen. Ab der ersten Stunde des 1. Mai werden wir der EU angehören, mit all unseren Fehlern und positiven Seiten. Und dabei verlassen wir uns darauf, dass auch die anderen ihre Schwächen und Stärken haben. Das ist doch eine der Säulen Europas: die Vielfalt. (DER STANDARD, Printausgabe, 1./2.5.2004)