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Das Weinbaugebiet von Villany mag idyllisch sein. Ungarns Süden und Osten sucht freilich eine Perspektive jenseits der önologischen Idylle.

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Der sehr junge Mann mit der mächtiger Herkules-Gestalt sitzt am Ende einer Landstraße, die sich, ächzend unter den vielen Schwerlastern, durch die Puszta schlängelt. Aber der junge Mann macht sich Hoffnungen: Nur noch zwei Jahre soll es dauern, dann wird László Botka, der Bürgermeister der südostungarischen Grenzstadt Szeged, am Endpunkt einer Autobahn sitzen und endlich so schalten und walten können, wie er sich immer vorgestellt hat, dass ein umsichtiger Bürgermeister zu schalten und zu walten hat. Denn durch den hochrangigen Verkehrsanschluss kann der lang ersehnte ökonomische Aufschwung in seiner - bisher von allen nationalen Infrastrukturplänen vergessenen - Stadt im tiefen Südosten Ungarns endlich beginnen. Dabei hätte die mit 177.000 Einwohnern viertgrößte Stadt Ungarns am Dreiländereck mit Rumänien und Serbien längst an das Autobahnnetz angeschlossen sein können. Nein: müssen. Aber aus Gründen, die wegen eines undurchsichtigen Konzessionsvertrags wohl noch sehr lange sehr rätselhaft bleiben dürften, endet die große Autobahn, die aus Budapest Richtung Südosten führt, genau 45 Kilometer vor Szeged. "Und diese Isolation hat Szeged wirklich großen Schaden zugefügt", sagt Botka.

Schuldenberg und Scherbenhaufen

Seit zwei Jahren ist der Jung-Sozialist Chef im eklektizistischen Jahrhundertwende-Rathaus. Beim Amtsantritt hatte er einen Schuldenberg von seinem rechtskonservativen Vorgänger und den wirtschaftlichen Scherbenhaufen des Kommunismus vorgefunden. Die wichtigsten Industriebetriebe aus der Vor- Wende-Zeit - solche für Textilien, für Schuhe, für Kabel und für Lebensmittelkonserven - waren Pleite gegangen oder abgewandert. Als trauriger Rest übrig geblieben war der Produzent der immerhin sehr beliebten Salami-Marke "Pick" und der Hersteller des berühmten Szegeder Paprika-Pulvers. An diesem Frühlingstag aber schaut Botka optimistisch in die lila knospenden Magnolienbäume am Rathausplatz. Szeged, so hofft es der junge Bürgermeister, soll durch den Autobahn-Anschluss ein regionales Logistik- Zentrum, eine über die Grenzen des Ungarlandes hinaus gewichtige Schaltstelle, ein echter Knotenpunkt am Tor zum Balkan werden, plant er. "Bei uns werden alle, die Richtung Südosten fahren, durchmüssen". Investoren, die wegen der billigeren Arbeitskraft in der nahen serbischen Vojvodina und in Westrumänien Fabriken bauen, würden Szeged deshalb als Standort für ihre jeweiligen regionalen Zentralen brauchen. An der künftigen Autobahn will Botka deshalb einen Industriepark bauen. Die Autobahntrasse "M5", durch die sein Szeged bisher "diskriminiert" wurde, wie Botka sagt, war bis vor kurzem auch noch die teuerste Autobahn Europas, weil sie sich in Privatbesitz befand.

Die teuerste Straße

Die Erbauer und Eigentümer, ein Konsortium aus der französischen Gruppe Bouygues und der österreichischen Strabag, verlangten von Autofahrern für die einmalige Benutzung der 115 Kilometer von Budapest bis zum Autobahnende sage und schreibe 15 Euro. Lkw- Fahrer mussten gar das Dreifache dieser Summe an Maut bezahlen, oder sie wichen auf die Landstraße aus und donnerten durch die darauf naturgemäß völlig unvorbereiteten Dörfer. Die Anwohner hatten zehn Jahre lang verzweifelt versucht, sich mit Straßenblockaden gegen die enorme Verkehrsbelastung durch den Lkw-Transit zu wehren. Jetzt atmen sie auf in den Transitdörfern der Tiefebene, denn der Staat hat die Abschaffung der teuren Maut durchgesetzt, indem er 40 Prozent der privaten Autobahngesellschaft kaufte. Die "M5" ist nunmehr mit der viel billigeren Vignette benutzbar, die bisher nur für die restlichen 421 Autobahn-Kilometer Ungarns galt, die dem Staat gehören. Hinzu kam der Regierungsbeschluss, die Autobahn bis Szeged weiter zu bauen.

Umorientierung

Dies ist - nicht alleine, aber wohl auch - der Lobby-Arbeit von László Botka zu verdanken, in seiner Dreifach-Funktion als Bürgermeister, Parlamentsabgeordneter und Mitglied jenes engeren Zirkels der regierenden Sozialisten um den parteilosen Ministerpräsidenten Peter Medgyessy. So kam es, dass Szeged nach dem Machtwechsel 2002, als die Sozial-Liberalen in Budapest bei der Parlamentswahl die Rechtskonservativen mit ihrem Ministerpräsidenten, Viktor Orbán aus dem Amt hebelten, verkehrspolitisch endlich die gebührende Achtung gefunden hat. Eine Achtung, die viele auch als volkswirtschaftlich bedeutende Umorientierung der Budapester Politik sehen. Ungarn ist immer noch, wie schon seit Jahrhunderten, ein wirtschaftlich zweigeteiltes Land. Das krasse Industrialisierungs- und Wohlstandsgefälle zwischen dem Westen und dem Osten des Landes hängt seit jeher mit den Infrastruktur-Unterschieden zusammen. Wo kaum Straßen hinführen, gibt es keine Investoren und keine Arbeit.

Investoren aus dem Westen

So gesehen hat Szeged als erstes strukturschwaches Gebiet des ungarischen Ostens das große Los gezogen. Der Rathauschef des nun - so die Hoffnung - aufstrebenden Regionalzentrums Szeged hat ganz offensichtlich durch seine Parteisoldaten-Karriere etwas für seine Stadt tun können. Premier Medgyessy schätzt Botka so sehr, dass er ihn zum Abendessen im engsten Kreis mit Jacques Chirac einlud, als dieser jüngst Ungarn besuchte. Der junge Provinzpolitiker nutzte die Chance, um mit dem Herren des Elysee-Palastes über das geplante medizinische Forschungszentrum zu plaudern, für das er Investoren aus dem Westen nach Szeged locken will. Schon als 18-Jähriger trat Botka der Sozialistischen Partei bei. Er war 21 Jahre alt und frischer Jura-Student, als er 1994 jüngster Abgeordneter im Parlament wurde. Im vorigen Jahr hätte es der inzwischen zweifache Familienvater beinahe in den Parteivorstand der Sozialdemokraten geschafft. Ob er, der so agile Politiker, schon immer Politiker werden wollte? "Aber um Gottes willen: nein! Ich bin doch ein normaler Mensch!", ruft er. Sind denn Politiker grundsätzlich nicht normale Menschen? Da lacht er herzlich, ohne seine gewohnte gravitätische Pose. Und jetzt spürt die Gesprächspartnerin: Der Mann ist erst 31 Jahre alt. (DER STANDARD, Printausgabe, 1./2.5.2004)