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Ein katholisches Land glaubt „an alle Arten von Magie und Mystizismus“.

Foto: APA/epa/EU

Litauer sind stolz, die „letzten Heiden in Europa“ zu sein, denn zu Christen und getauft wurden sie erst 1387. Heute sind die antike Religion der Balten, erneuerte Heidenkulte und archaische Rituale sehr populär. Gleichzeitig identifizieren sich mehr als 78 Prozent der Litauer mit dem römischen Katholizismus und nennen ihr Land „das Land der Jungfrau Maria“, in der Hoffnung, die Gottesmutter und Jesus Christus würden eine spezielle Sympathie gegenüber den Litauern hegen.

Bemerkenswert, dass die eiferndsten Kommunisten und Atheisten der Sowjetzeit heute die glühendsten Katholiken sind. Als Katholiken glauben die Litauer auch an alle Arten von Magie, Mystizismus, Astrologie, Parapsychologie usw. Unser Expräsident Rolandas Paksas (durch ein Amtsenthebungsverfahren wegen Korruption abgesetzt, Red.) etwa war völlig seinem persönlichen Orakel, der Georgierin Lena Lolischwili, ergeben.

Litauer sind die größten Fatalisten in ganz Europa, denn mehr als 70 Prozent von uns glauben, dass alles in unserem Leben vom Schicksal, den Sternen oder sonst einer höheren Macht vorherbestimmt ist. Leider sind die Litauer mit all ihrem Glauben und Aberglauben Weltmeister in der Anzahl der Selbstmorde. Wirklich glücklich und fröhlich sind Litauer nur, wenn unsere Basketballmannschaft den Europacup oder eine Olympiamedaille gewinnt. Man kann also festhalten, dass Basketball fundamentale litauische Religion ist.

Litauer sind eher Pessimisten als Optimisten. Sie sind immer ziemlich traurig, melancholisch, depressiv, ja sogar unsere wunderschönen Volkslieder heißen „raudos“, was „Weinende“ bedeutet. Aber Litauer sind exzellente Dichter, und selbst jetzt, wo die Poesie angesichts der digitalen Welt ihre Bedeutung verliert, haben wir echte Poesieschreiber.

Vielleicht fehlt uns ein guter Sinn für Humor, aber wir finden durchaus lustige Witze über unsere lettischen und besonders die estnischen Nachbarn. Darin figurieren wir als die „Südlichen“ mit „italienischem“ Temperament oder „spanischem“ Naturell. Das „südliche Temperament“ lebt sich aber nicht leicht, wenn du sieben Monate lang Winter und im Sommer viel Regen hast. Sogar der Name „Litauen“ (Lietuva) kann als „Land des Regens“ (lietus=Regen) entschlüsselt werden.

Älteste indoeuropäische Sprache

Litauer sind stolz, die älteste indoeuropäische Sprache, die ziemlich ähnlich wie Sanskrit klingt, zu haben. Manche Litauer jedoch, vor allem junge Schriftsteller, klagen darüber, dass die Sprache zu archaisch, zu bäuerlich und altmodisch ist, um Dramen und Leidenschaften des 21. Jahrhunderts auszudrücken.

Die jüngste Generation von Litauern ziehen der Sprache ihrer Vorfahren einen Slang, gemischt mit MTV-Englisch, vor. Die ältere Generation schlägt Alarm, dass wir durch den EU-Beitritt unserer Sprache und unserer nationalen Identität für immer verlustig gehen.

Als sehr kleine Nation haben Litauer beständig Angst, sich in einer größeren und mächtigen Union aufzulösen, immerhin hatten wir bereits eine schlechte, 50 Jahre lange Erfahrung als „Mitglied einer Union“. Von ebendieser schlechten Erfahrung kommt der litauische Minderwertigkeitskomplex, vermischt mit Größenwahn und Überlegenheitsgefühl. Damit in Verbindung steht die litauische Xenophobie, eine Manifestation des Rassismus oder Antisemitismus. Als Reaktion auf das eine Extrem sticht jetzt der Anstieg des Kosmopolitismus, wenn nicht überhaupt des Antipatriotismus der jungen Generation ins Auge.

Eigentlich ist das Gerede von der Reinheit einer litauischen Nation Fantasie und Illusion, denn wenn man wie Litauen geografisch an solch einer Straßenkreuzung lebt, vermischt sich das Blut zwangsweise. Denkt man an unsere alte und junge Geschichte, so ist offensichtlich, dass jeder „echte“ Litauer ein gewisses Gemisch unterschiedlichen Blutes in sich trägt (russisches, weißrussisches, polnisches, jüdisches, tatarisches, lettisches, preußisches, deutsches und französisches).

Vielleicht sind dank diesem Umstand die litauischen Frauen die schönsten der Welt. Männer sind in der Minderheit (auf einen Mann kommen fast zwei Frauen). Man kann sogar von einem gewissen heimlichen oder versteckten Matriarchat sprechen, das sich allerdings noch immer nicht in den offiziellen Strukturen oder der Zusammensetzung der litauischen Regierung niederschlägt. Bei einem Kurzbesuch in Litauen sind alle Zeichen eines altmodischen Patriarchats zu sehen. (Übersetzung: Eduard Steiner/DER STANDARD, Print-Ausgabe, 30.4./1./2.5.2004)