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Pascal Lamy EU-Handelskommissar:

Welches Projekt schlägt man für Europa in zehn Jahren vor? Es fehlt uns vor allem ein Fahrplan, ein klar identifiziertes Ziel. Pascal Lamy EU-Handelskommissar

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Jürgen Habermas, Philosoph:

Die Integration ist trotz ungeklärter Probleme immer fortgeschritten. Diese Überlegung ist inzwischen weit gehend erschöpft.

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Joschka Fischer, deutscher Außenminister:

Die Ausrichtung der strategischen Dimension der Europäischen Union wurde durch den 11. 9. wesentlich definiert.

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Der „historische Moment“ der Erweiterung führt an einen historischen Scheideweg: Was wird aus dem Europa der 25 oder 30? Ein Bundesstaat, ein Staatenbund oder ein „neues mittelalterliches Reich“?

Geht die Union an ihrem Erfolg zugrunde? Und wird Henry Kissinger denn niemals die Telefonnummer Europas erfahren?

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Justus-Lipsius, Saal 35.4: In dem grün gehaltenen, 32 Meter langen Raum im Brüsseler Ministerratsgebäude sitzen bestenfalls 25 Staats- und Regierungschefs an einem Tisch. Bei größeren Räten sind es auch 50 oder 75 Politiker. Man verständigt sich über Mikrofone und Videoanlagen, die Redner sind für die meisten Sitzungsteilnehmer erst auf Displays zu erkennen. Ein Zentralrechner reiht Wortmeldungen – wenn er nicht gerade defekt ist. Es wird kaum diskutiert, dafür viel referiert. Diplomaten, die den Saal nicht wie ihre Chefs nach Laune verlassen können, beschäftigen sich im Hintergrund mit Plänen fürs Wochenende oder lesen diskret ein gutes Buch.

Ein Horrorszenario? Nein, Realität. Nachdem die Sektlaune des 1. Mai verflogen sein wird, wird der Alltag den Mächtigen der Europäischen Union deren mögliches Ende vorführen: eine EU als Koloss aus Institutionen und Verfahren, die an ihrem Erfolg zugrunde zu gehen droht. Die Zeit des Erwachens ist angebrochen.

Nach all den visionären Reden, dem emphatisch gepriesenen Friedensprojekt, dem forcierten grenzenlosen Wirtschaftsraum, den pragmatischen Uneindeutigkeiten in den Verträgen muss es Klärungen geben in der EU. Die Europäer, die Welt und Henry Kissinger müssen endlich wissen, unter welcher Telefonnummer Europa denn zu erreichen sei.

„Welches Projekt schlägt man für Europa in zehn Jahren vor? Es fehlt uns vor allem ein Fahrplan, ein klar identifiziertes Ziel“, kritisierte der Brüsseler Handelskommissar Pascal Lamy vor wenigen Tagen die „lückenhafte Vorbereitung“ der jüngsten Erweiterungsrunde auf politischer Ebene. In der Tat sind nach mehr als 50 Jahren europäischen Einigungsprozesses weder Grenzen noch Werte Europas festgeschrieben, noch – und das wiegt wohl am schwersten – ist klar, ob diese Union denn Staatenbund oder Bundesstaat zu sein habe.

Auch der Verfassungsentwurf hat dazu in zwei von drei Fragen nichts Wesentliches geleistet. Ist im Artikel 2 immerhin von Menschenwürde, Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit als Werten der Union zu lesen, „bleiben die beiden heiklen Fragen nach der politischen Struktur und nach der geografischen Identität“ (Jürgen Habermas) ungeklärt. Und beides stellt für den deutschen Philosophen zum heutigen Zeitpunkt das Projekt der europäischen Einigung selbst infrage: „Die Geschichte zeigt, dass der Integrationsprozess über ungeklärte Probleme und Phasen des Stillstandes trotzdem immer fortgeschritten ist. Ich glaube, dass diese Überlegung inzwischen weit gehend erschöpft ist.“

Mag diese Diagnose – abgesehen von der institutionellen Überdehnung der Union – für eventuelle Beitritte Bulgariens, Rumäniens und Kroatiens noch keine vitale Rolle spielen, heißt es für Europa demnächst in Sachen Türkei endgültig Farbe zu bekennen. Seit 40 Jahren klopft Ankara in Brüssel an, einmal (1987) wurde ein Beitrittsansuchen bereits abgelehnt.

Seit dem Gipfel von Helsinki 1999 haben die Türken eine konkrete Beitrittsperspektive, und im kommenden November will die abtretende Kommission dem Rat noch eine Empfehlung machen, ob denn Beitrittsverhandlungen aufgenommen werden sollen. Frankreich hat sich schon jetzt auf ein Nein festgelegt. Der neue Außenminister Michel Barnier hat Ankara den Status eines „privilegierten Partners“ angeboten, wohl wissend, dass die Türken das bereits mehrfach strikt abgelehnt haben. Welche Gründe Paris auch immer für seine Haltung haben mag – einer davon ist, dass sich mit einem Beitritt der Türkei die Außen- und Sicherheitspolitik der Union grundlegend ändern müsste.

Reichten die Außengrenzen der Union in den Kaukasus und den Nahen Osten, dann wäre mit einer Brüsseler und rund 30 nationalen Außenpolitiken endgültig nichts mehr zu wollen. Das bedeutete notwendigerweise das Abgehen vom Einstimmigkeitsprinzip in der Außen- und Sicherheitspolitik (im jetzigen Verfassungsentwurf wird es beibehalten), das Abgehen von nationaler Großmachtpolitik hin zu einer „Großmacht Europa“ (auch Barnier!) mit allen Konsequenzen. Wäre es jemandem wirklich ernst damit, müssten Frankreich und Großbritannien ihren Sitz im UN-Sicherheitsrat zugunsten der EU räumen und Deutschland dürfte erst gar keinen anstreben. Ist das realistisch? Natürlich nicht. Und insofern ist die 1992 in Maastricht in die Europäische Gemeinschaft eingeführte politische Dimension und insbesondere der Begriff Union bestenfalls Folklore für gutgläubige „europäische Bürger“.

Will heißen: Die Vereinigten Staaten von Europa wird es nie geben – es ist schon schwierig genug, einen Bund von Staaten mit derart heterogenen Interessen zusammenzuhalten. Stattdessen werden die Europäer wahlweise mit einem Kerneuropa (mit oder ohne deutsch-britisch-französischem Direktorium), einem Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten, der konzentrischen Kreise – mithin mit dem vorlieb nehmen müssen, was seit jeher landläufig eben „Brüssel“ heißt.

Dass das nicht genügt, hat der deutsche Außenminister Joschka Fischer unlängst in einem Interview mit der FAZ deutlich gemacht. Er sprach neben der historischen und pragmatischen von einer strategischen Dimension der EU: „1989 kam die dritte Dimension dazu. Es zeigte sich, dass sich die Union nicht länger im Schlagschatten des Ost-West- Konfliktes entwickeln konnte, wo die strategische Last an Amerika abgegeben war. Und die Ausrichtung dieser strategischen Dimension wurde durch den 11. 9. wesentlich definiert.“

Asymmetrischen Bedrohungen sei nur in kontinentalen Anstrengungen zu begegnen, aus dem Mittelmeer müsse ein „Meer der Kooperation und nicht des Konflikts“ werden. Nimmt Europa diese Verantwortung nicht wahr, so der Deutsche, der gern als EU-Außenminister gehandelt wird, dann sei die Union in Hinkunft strategisch, sicherheitspolitisch wie ökonomisch nur noch „sehr eingeschränkt handlungsfähig“. Fischers Analysen klingen plausibel. Aber zur „politischen Realität“ in Brüssel gehört neben einigen ungeklärten Grundannahmen, dass es seit Jahrzehnten guter Brauch ist, den politischen Mangel zu verwalten: In den aufkommenden Verteilungskonflikten in der Union scheinen Minimalvarianten und der kleinste gemeinsame Nenner das Maximum zu sein.

Das gilt für die Politik der „Neuen Nachbarschaft“, mit der die Ränder der EU stabilisiert werden sollen, ebenso wie für den Barcelona-Prozess zur Integration der Mittelmeer- Anrainerstaaten und die Strategie für den Westbalkan. Das gilt für das zukünftige transatlantische Verhältnis ebenso wie für die Russland- Politik der Union (selbst wenn Silvio Berlusconi noch so gut mit Wladimir Putin ist: Moskau wird mittelfristig der EU gar nicht beitreten wollen, weil sich Putin nicht einmal von Russlands Bürgern ins Regieren dreinreden lassen will). Und das gilt natürlich auch für die viel beschworene innere Vertiefung der Union.

Wo also geht Europa hin? Wird es kein homogener Bundesstaat, so Michael Emerson vom Brüsseler Centre for European Policy Studies, dann könnte „die Europäische Union zu einem neuen mittelalterlichen Reich“ werden.

Ein Imperium, das einen gut definierten, homogenen Zentralraum habe und eine Peripherie, also ein Dutzend oder mehr Staaten, die in einem nicht wirklich geklärten Rahmen zu Europa gehören. „Das gibt es bereits jetzt: Norwegen ist kein Mitglied der Union, aber assoziiert. Großbritannien ist Mitglied, aber nicht beim Euro dabei. Da gibt es viele Möglichkeiten, die alles darstellen, nur keine Vereinigten Staaten von Europa.“

Anders gesagt: Im neuen Mittelalter gibt es so wie im alten keine Telefonanschlüsse. Herr Kissinger wird sich weiter gedulden müssen. (Christoph Prantner/DER STANDARD, Print-Ausgabe, 30.4./1./2.5.2004)