Richard Reichensperger 1961-2004

Foto: Fischer Verlag

Ich muss nicht, ich will jetzt etwas zum Andenken eines Menschen schreiben, den ich nicht sehr gut, aber doch gekannt habe. Und wenn ausgerechnet ich etwas über einen anderen sagen soll, dann ist das wie ein heißes Messer, das durch Butter fährt: Die Butterwände links und rechts weichen vor der Hitze des Messers zurück, schmelzen zusammen. Die Distanz ist immer größer als der schmale Raum, den das Messer, wäre es kalt, brauchen würde. Ich bin jemand, der nichts von anderen wissen will, und die anderen sind es zufrieden. Richard Reichensperger war es ohnehin, er war mit allem zufrieden, weil er die höchsten Ansprüche an alles gestellt hat. Wie jemand bei allem laut auflachen muss, weil er sich gerade nicht im anderen spiegelt, sondern sich selbst genug ist und dabei am allermeisten: für andere da ist.

Was soll ich sagen. Soll ich etwas über einen schmalen Körper mit einer Fülle wuscheligen hellblonden Haars auf dem Kopf sagen, der mir im Eingang (Ausgang) einer U-Bahn-Station über den Weg buchstäblich läuft. Immer rasche Bewegungen, aber anmutig. Die Freude, wenn man einander erkennt, immer nur kurz oder länger, mit der Ilse Aichinger zusammen, indem man gedankenvoll zusammensitzt und laut auflacht angesichts eines einzelnen besonderen Gedankens, einer Erinnerung, die einem unwillkürlich kommt, auch wenn sie schrecklich kommt, die Erinnerung - und Ilse Aichinger hat viele, viele Gründe gehabt, dass immer und immer wieder etwas Schreckliches zu ihr und aus ihr gekommen ist - , in Gegenwart dieses leichten, heiteren Menschen Richard R. ist die Erinnerung und deren Projektion in die Zukunft die Bestätigung, dass man da ist in einem unseligen Land, das so oft selig gesprochen und selig genannt worden ist, dass wirklich niemand mehr vergessen kann, wie unselig es in Wirklichkeit ist, eben leicht gekommen, nicht leicht gefallen, aber leicht gekommen, die Erinnerung, und jetzt wird sie wohl nach Hause gehen müssen.

Genug gesagt, aber natürlich sage ich noch mehr, obwohl es immer je schon genug wäre. In diesem seltenen Sprechen mit Richard und in den Begegnungen mit seinen Texten ist einem etwas begegnet, das schwer zu benennen ist, weil es schwer zu fassen ist (ja, ich bin eine, die immer etwas fassen will, es aber nicht kann). Als ob man der Welt erlauben würde, der Wahrheit zu begegnen, indem man sie in kleinste Teile zerlegt und diese endlos anschaut, und wenn sich die Teile nicht von selber umdrehen, dann dreht man sie eben von Hand um, damit die Welt endlich mal anders ausschaut. Aber sie bleibt, wie sie ist. Das ist nicht Resignation des Analysierenden, des Schreibenden, der ja nur räumliches Behältnis ist für das, was er sieht und analysiert, der ja nur darin eingesperrt ist (na, jetzt nicht mehr, lieber Richard!), aufgehoben in sich, und zwar weil er dort gar nichts aufheben will (er weiß ja gar nicht, was er dort überhaupt zu suchen hat!), sondern viel mehr: aufheben will, vom Boden, aus Büchern, aus anderen Menschen. Ich glaube, so ein Sammler war Richard, der gleichzeitig auch in sich selbst aufgehoben war.

Ich glaube, man kann sagen, dass dieses die Dinge Aufheben aus Geschriebenem, aber auch aus der Wirklichkeit, in seinem, Richards Körperbehältnis eben nicht festgehalten worden ist, aber auch nicht verschenkt wurde, indem er darüber geschrieben hat, darüber schreiben musste. Dieser grazile Mann, ja, so bleibt er mir in Erinnerung: das Haar und die grazilen raschen Bewegungen (auch im Kopf), hat um dieses Aufheben der Dinge und Menschen, die er analysiert hat, kein Aufhebens gemacht. Er war die Selbstlosigkeit selber, nicht nur als Mensch, sondern auch im Schreiben. Und ich meine mit Selbstlosigkeit nicht, dass er sich selbst nicht gehabt hätte, im Gegenteil, man muss sich sehr haben, um soviel auslassen zu können, und was man da auslässt, das ist kein wildes Tier, das man aus dem Käfig herauslässt, das ist das Sich Herauslassen (und die Gedanken Herauslassen) aus einer Örtlichkeit, von der man gern hätte, dass sie die ganze Welt wäre. Aber jemand wie Richard hat gewusst, dass dieses schwerelose Aufheben, dieses sich um andere Sorgen, indem man kleine Besorgungen macht, aber die großen eben auch (gerade die kleinen Besorgungen bedingen ja die großen! Ilse Aichinger hat schließlich auch wieder zu schreiben angefangen nach dem Tod ihres Sohnes, und Richard hat da sicher seinen Anteil daran gehabt, und sie hat auch weitergeschrieben, für ihn, während er schon im Spital lag, Hermes Phettberg hat er finanziell geholfen, und der ist an seinem Bett gesessen, die ganze Zeit, während ich nicht einmal von seiner schweren Erkrankung wusste), die Welt überhaupt erst herstellt, den Boden überhaupt erst verlegt, von dem man dann etwas aufheben könnte, während die großen, schweren Schläge, auch die gedanklichen, die man austeilt, die Welt nur wieder zurück in eine Art rauen Naturzustand versetzen. "Das Leben steht wie ein Riese vor mir. Der Bogen Papier fliegt mir weg, ich bin wie im Fieber", schreibt und sagt somit Robert Walser. Der war auch so einer, der sich klein gemacht hat, und er hat gewusst, wie groß er ist, und er hat im richtigen Moment stets darauf gepocht.

Ich will Richard Reichensperger nicht mit Walser vergleichen, weil man niemanden mit Walser vergleichen kann, aber das hat Richard Reichensperger wirklich an sich und in sich gehabt: das von Sich Weggehen Können, und zwar ganz weit weg (wenn auch zum Glück bisher nicht so weit, wie er jetzt gegangen ist), das von Sich Absehen Können, und man muss sehr weit von sich weggehen können, um von sich absehen zu können, man muss aber gleichzeitig in sich bleiben, sonst sieht man ja nichts, und sonst sieht man auch die Entfernung nicht mehr, die sich zwischen einem selbst und den Dingen und dem, was man über die Dinge oder Zeichen aussagen kann, erstreckt. So weit der Bogen wegfliegen kann, wenn man ihn gleichzeitig spannt und den Pfeil abschießt, und alles ist: Papier Papier Papier. Und das Papier, das scheinbar alles aufnehmen kann, was man nur will, das ist auch leicht, ein leichtes Stück, aber schwer zu beschreiben. Das Ende der Beschreibung ist oft erst der Anfang des Beschreibens. Obwohl das Papier sich einem immer so nett zum Beschriebenwerden anbietet.

In seinem Umgang, den er mit den Menschen hatte, ich weiß nicht, wie viele er gekannt hat, aber es müssen viele gewesen sein, er war ja: umgänglich, wie man sagt, aber umgänglich sein ist wieder das Gegenteil von: mit Menschen Umgang Haben. Da hat er dann seine Besorgungen gemacht, im materiellen wie im philosophischen Sinn. Da ist er nicht einfach der Welt, Ilse Aichinger, Phettberg, mir, vielen anderen begegnet, sondern, indem er besorgt war um andre, aber auch um die Schrift, um das Geschriebene wie das Schreiben, das er immer als etwas betrachtet hat, das einem begegnet, wie Menschen einem begegnen (solche Begegnungen hat er natürlich auch herbeigeführt, das tun wir ja alle, wenn wir "etwas" lesen), war das, was er da aufgeklaubt hat, nie ein Vorfinden, sondern immer etwas ganz Neues, ein etwas Vorgefundenes Auffinden, und das heißt: Aufheben, ein Aufheben, das jederzeit bereit sein muss, das, was man da gefunden hat, auch wieder herzugeben.

Am Theater ist ein Durchlauf das Durchlaufenlassen einer Inszenierung, egal wie viele und welche Fehler passieren, einmal muss man halt durch und dann immer wieder, bis alle fertig sind und es fertig ist. Richard war einer, der Durchläufe gemacht hat, aber er hat sie nicht "gemacht", in seiner Schwerelosigkeit gefangen, die ich zu beschreiben versuche, aber natürlich nicht beschreiben kann, und sie sind ihm auch nicht einfach so widerfahren, er hat ja genau gewusst, was er tut, er hat es getan, indem er, was ihn passiert hat, wie ein Zug eine Weiche, und was ihm passiert ist, ob Mensch oder Schrift, als Begegnung bestehen hat lassen und uns gleichzeitig, während er es noch aufgefangen hat, auch schon etwas davon abgegeben, indem er es gleichzeitig behalten hat, nicht besitzgierig, er hat sich davon getrennt. Indem er sich nie davon getrennt hat. Was kann ich schon sagen? Er hat sich die Welt begegnen lassen. Nicht er ist ihr begegnet, er hat sie sich begegnen lassen. Und er hat, indem er anderen geholfen und gleichzeitig dem Schreiben andrer seine Reverenz erwiesen hat (oder auch seine Kritik, natürlich auch seine Kritik!) eine Begegnung mit der Welt gehabt, die, so flüchtig, wie ich ihm oft begegnet bin in U-Bahnhöfen und Kaffeehäusern oder auf der Straße, wenn ich, Bewohnerin der Vororte, mal "wieder in der Stadt" war; indem er also um andere besorgt gewesen ist, hat er die Welt in sich hineingeschafft. Geschafft, nicht gierig geschaufelt.

Es ist ja auch in der Liebe oft so, dass man das am wenigsten behalten kann, was man am mühsamsten eingefangen hat und am liebsten ganz für sich allein behalten möchte. So werde ich, glaub ich, an Richard Reichensperger denken: Einer, der alles eingefangen hat, indem er es nicht behalten wollte, sondern weitergeben. Indem er vielleicht vergessen werden wollte, werde also ich jedenfalls ihn nicht vergessen, gerade weil ich ihn kaum gekannt habe, kaum kennen konnte. (DER STANDARD, Printausgabe, ALBUM, 30.4./1.5./2.5.2004)