Roland und Johanna Rainer, Ausstellung in der MAK-Galerie, 2002

Foto: MAK

Planung war für Roland Rainer eine politische Aussage. Sein Werk ist gebaute Erinnerung.

Durch Roland Rainer haben wir alle ein Mehr an Gemeinsamkeit erfahren. Das war die Aufgabe, der sich dieser unvergleichliche Mensch tagtäglich bis zuletzt in seiner Arbeit wie in seinem persönlichen Leben stellte. Sein Hinscheiden soll uns daran erinnern, dass es nun an uns allein ist, diese Wachheit und Aufgeschlossenheit gegenüber der Gestaltung unseres gemeinsamen Lebensraums als Aufgabe anzunehmen und, wie er es uns gelehrt hat, ohne falsche Kompromisse und Konzessionen weiterzuführen.

Es war an einem Tag in der vergangenen Osterwoche, kurz vor Sonnenuntergang, im Anschluss an eine Besprechung mit einem Steinmetz im Steinbruch von St. Margarethen im Burgenland, an dem mich der Gedanke nicht mehr losließ, wieder einmal das Haus Roland Rainers aufzusuchen. Ich war mir nicht mehr ganz sicher, ob ich den Weg dorthin noch finden würde, dennoch ließ ich mich auf einen Fußmarsch durch die frühlingshafte burgenländische Heidelandschaft ein, bis ich das vertraute, aber in seinem beruhigenden Bezug zur umliegenden weitläufigen Landschaft dennoch kaum wahrnehmbare schlichte Natursteingebäude vor mir liegen sah. Wie traditionsbewusst es anmutet und dennoch modern, originär, stolz und eigenständig; ein heiter-unbeschwerter Solitär, eine Ikone moderner Architektur in Österreich.

Scharfsinnige Klarheit

Geprägt durch scharfsinnige Klarheit, manifestiert sich in diesem Schlüsselwerk das gebaute Programm eines Architekten, der wie kein anderer der unbeugsame Kämpfer für eine humane Architektur gewesen ist. Und damit, eben weil das für Rainer unverzichtbares Moment des Humanen war, artikuliert sich zugleich der Ort; der Ort, der diese Lösung inspirierte, seine Geschichte, die Lage, die Landschaft, das zur Verwendung gekommene Material. Unter Einbeziehung burgenländischer Bautraditionen, der Atrium-Typologie, der Pergolen, ist dieses Bauwerk gleichzeitig eine unmissverständliche Demonstration zeitgenössischer Architektur, und als solche führt es in selbstverständlicher Art vor Augen, was architektonische Zeichensetzung tatsächlich sein kann.

Wie wir heute wissen, hat Roland Rainer sein Büro, seinen zentralen Lebensraum, bis zuletzt nicht verlassen: Was wie eine sentimentale Anekdote erzählt werden könnte, ist tatsächlich zugleich Bild und Chiffre zu seinem Vermächtnis. Nicht nur war seine Lust am befreienden Spiel mit Geometrie und Schwerkraft unerschöpflich, die Arbeit sein Leben; vor allem beugte er sich nie dem Zwang zum Rückzug ins Private. Er ließ und lässt sich nicht als Person aus den gesellschaftlichen Zusammenhängen herauslösen, in die er sich mit seiner Arbeit stellt – ebenso wie der durch sie gegebenen und von ihm erkannten Verantwortung: die Maßstäbe und entscheidenden Kriterien vorzugeben, als die unverzichtbare Bedingung für jede Möglichkeit der Entwicklung von Architektur – ihre soziale Verankerung im konkreten Lebensraum, verkörpert in der Haltung des Architekten.

Gesellschaftlich gestalteter Raum

Dafür steht er ein. Ob in seinem "gebauten" Werk – mit den Stadthallen oder den Gartenstädten und seinen zahllosen anderen Beiträgen zum Thema "Siedlung" und "Wohnen" – oder mit seinen Raumordnungskonzepten: Seine Perspektive ist die der gemeinschaftlichen Nutzung des nach Maßgabe der Möglichkeiten menschlichen, und das heißt gesellschaftlich gestalteten Raums. Roland Rainer ist nur zu verstehen als Gestalter sozialer Zusammenhänge. Wo es ihm verunmöglicht wurde, sie zu gestalten, betätigte er sich doch zumindest als deren Archäologe. Darin begründet sich seine Aktualität wie auch gleichzeitig seine Unzeitgemäßheit.

Es war seine unverrückbar demokratische Geisteshaltung, die ihn dazu angehalten hat, immer seine unmissverständliche Position zu vertreten, Stellung zu beziehen, ungeachtet der Frage, ob es gerade populär war. Planung selbst war für Roland Rainer eine politische Aussage. Wie sein Haus in St. Margarethen ist sein Werk gebaute Erinnerung.

Sinnlich erfahrbarer gesellschaftlicher Prozess

Erinnerung ist bei Roland Rainer keine persönliche Eigenschaft. Sie ist ein sinnlich erfahrbarer gesellschaftlicher Prozess; sie ist das Konstruktionsprinzip der Gegenwart. Nur was aus Erinnerung, aus kritischer Reflexion des Geschehenen hervorgeht, kann brauchbar sein. Nur soweit etwas gebraucht werden kann, wird es Teil der Erinnerung und damit Begründung von Gegenwart: Für Roland Rainer ist Architektur tatsächlich grundlegend. Sie ist nicht Behübschung, Dekoration oder Markenzeichen. Sie hat die Strukturen, die Wege und Räume zu eröffnen, in denen das Leben sich überhaupt erst entwickeln und bewegen kann. Für ihn steht Architektur als praktizierte Demokratie im Schnittpunkt der kulturellen Entwicklung – vergleichbar dem Konstruktivismus von Ilja Golossow, dem Expressionismus von Erich Mendelsohn oder vielleicht dem Humanismus von Jürgen Habermas.

Gartenstädte, Stadthallen – die Themen seiner Arbeiten – sind Programm: Es geht stets darum, Orte der Begegnung, des öffentlichen, gesellschaftlichen Lebens zu gestalten, in denen die Einzelnen als freie Mitglieder eines Ganzen aufgehoben sind. Orte, deren Form und Gestalt nicht durch Ideologie vorgeschrieben wird, sondern durch den gemeinschaftlichen Nutzen. Vermutlich ist es gerade dieser zutiefst demokratische Planungswille, der Roland Rainer so viel Anerkennung und Missachtung brachte wie keinem anderen Architekten seiner Zeit. Oder wie sonst wäre es zu erklären, dass seine Arbeit stets gleichzeitig gelobt und gefeiert, sabotiert und unter der Hand zerstört wurde?

Zwischen privaten Interessen und unserer öffentlichen Verantwortung

Er fordert Architektur für die konkreten Nutzer. Dass eine solche Forderung in Widerspruch zu den Wünschen des Bauherrn geraten kann, mag bei privatwirtschaftlichen Bauvorhaben und deren einzigem Ziel, der Kapitalverwertung, nicht weiter verwunderlich sein. Aussagekräftig wird der Widerspruch jedoch, wenn der Bauherr die öffentliche Hand, zum Beispiel eine Stadt ist. Wenn ein architektonisches Projekt, mag es ein Gebäude sein oder ein Raumordnungskonzept, selbst zur Artikulation des Widerspruchs wird, in dem wir uns zwischen unseren privaten Interessen und unserer öffentlichen Verantwortung befinden, dann mag es vorkommen, dass wir gegen diejenigen Vorwürfe erheben, die uns nur auf unsere eigenen Versäumnisse aufmerksam machen.

Roland Rainer hat oft solche Gemeinheiten hinnehmen müssen, weil er nicht bereit war, die Notwendigkeiten des Gemeinschaftlichen den Wünschen des Privaten zu unterwerfen. Exemplarisch, weil aktuell, sei hier nur noch einmal an den Umgang mit den von ihm geplanten Stadthallen in Bremen ebenso wie in Wien erinnert, auf den das MAK bereits mit mehreren Veranstaltungen hingewiesen hat: Nicht dass deren nach wie vor uneingeschränkte Funktionalität infrage gestellt werden könnte, sondern um ihre konjunkturelle Kommerzialisierbarkeit steigern zu können, werden diese Gebäude sukzessive umgebaut und in ihrem Charakter verändert. Dass dies geschieht, ohne dass der planende Architekt, der bereitgestanden wäre, einbezogen wird, charakterisiert das Vorgehen: Wo sich der Architekt seiner Verantwortung – für die direkte Brauchbarkeit des von ihm geplanten Gebäudes wie für dessen Funktion in der Erinnerung – nicht entheben lässt, wird er von der Politik eben einfach ignoriert, denn diese hat sich ihrer Verantwortung längst schon selbst enthoben und eben jenen Raum aufgegeben, den Architektur zu gestalten hat.

Unbeugsame Energie

Doch Roland Rainer wäre nicht der große Lehrmeister geworden, der er war, hätte er nicht über Wege und Mittel verfügt, uns doch daran zu erinnern, dass es so einfach nicht ist. Er hat sein Büro, seine Arbeit trotzdem nicht verlassen. Als Vorbild steht er mit seinem Vermächtnis bereit, seinen weiterhin uneingelösten Forderungen an die Verantwortlichen dieser Stadt, den Bürgermeister, die Stadträte für Planung und Kultur, den Bundeskanzler und den Staatssekretär für Kunst – wie an alle Benutzer einer Stadt, der er stets bedingungslos seine ganze Leidenschaft, seine Kompetenz und unbeugsame Energie zur Verfügung gestellt hat.

Architektur artikuliert Zusammenhänge – soziale, gesellschaftliche, geschichtliche -, sie ist immer der bereits gestaltete Ort, die Stadt, die Landschaft, mit ihrer Geschichte, ihrer immanenten Dynamik, in die eine architektonische Aufgabe eingreift, und es ist nicht, umgekehrt, die Architektur, die einen Ort schafft. Architektur ist ein Medium des demokratischen Planungswillens in Verantwortung ihres Urhebers.

Offenheit der Kritik ist dazu die Grund- lage. Architektur hat diese Schnittstelle so zu gestalten, dass sie Nähe und Distanz gleichermaßen ermöglicht. Es sind unsere Beziehungen zum anderen, die das Feld unserer Möglichkeiten eröffnen und bestimmen. Alles andere ist nicht Architektur, sondern Traum.

Fortwirkens seines Werks sichern

Diejenigen, die sich zu einem Roland-Rainer-Komitee zusammengeschlossen haben, um die Möglichkeiten des Fortwirkens seines Werks zu sichern, stellen daher die folgenden Forderungen an die verantwortlichen Politiker dieser Stadt und dieser Republik und ihrer gesamten Öffentlichkeit:

  • Es ist umgehend ein Roland-Rainer-Lehrstuhl für Stadtplanung einzurichten.
  • Die Stadthalle als wesentliches Zeugnis moderner Architektur im öffentlichen Gebrauch ist unbedingt in ihrem durch Roland Rainer vorgegebenen Wesen und Auftritt zu erhalten.
  • In städtebaulichem Zusammenhang mit der Akademie der bildenden Künste in Wien als seiner jahrzehntelangen Wirkungsstätte ist ein Platz in Roland-Rainer-Platz umzubenennen.

Roland Rainers Werk als Herausforderung anzunehmen und fortzuführen sind wir allein dem kulturellen Selbstverständnis dieser Stadt schuldig.

Peter Noever, Direktor MAK

(ALBUM/ DER STANDARD, Printausgabe, 30.4./1./2.5.2004)