Standard: Sie kommen aus Ostdeutschland. Welche Lehren können für die europäische Einigung aus den Fehlern bei der deutschen Wiedervereinigung gezogen werden? Merkel: Wir können vor allem aus den Dingen lernen, die sich im Prozess der Wiedervereinigung bewährt haben. Nehmen Sie beispielsweise die Debatte um den Steuerwettbewerb in Europa: Es besteht die Sorge, dass durch sehr niedrige Steuern in den neuen Ländern und Fördergelder aus den alten Ländern Betriebe aus den alten Ländern abwandern. In Deutschland haben sich die Ministerpräsidenten deshalb darauf verständigt, dass es nicht sein kann, im Westen einen Betrieb zu schließen und dann mit Fördergeld diesen Betrieb im Osten wieder aufzubauen. Das hat im Allgemeinen gut funktioniert. Über eine solche Regelung wird man zwischen den neuen und alten Mitgliedstaaten diskutieren müssen. Standard: Wären Sie für ein Referendum beim Verfassungsvertrag? Merkel: Ich habe große Bedenken gegenüber Volksentscheiden auf Bundesebene, denn wir haben gute Erfahrungen mit der repräsentativen Demokratie. Die auf vier Jahre gewählten Abgeordneten müssen diese Verantwortung auch annehmen. Standard: Deutschland und Frankreich galten immer als Motor bei der europäischen Einigung. Was halten Sie vom Vorschlag, dies zu einem Viereck mit Großbritannien und Polen auszubauen? Merkel: Ein gutes deutsch-französisches Verhältnis bedeutet für Europa immer Dynamik und Fortschritt. Wenn der deutsch-französische Motor mit Leben und Inhalt gefüllt ist, kommt er auch Europa zugute. Dann gibt es das so genannte Weimarer Dreieck mit Polen. Das alles ist aber kein geschlossener Klub, und eine fixe Gruppenbildung sollte auch vermieden werden. Wenn aber in diesem Sinne Großbritannien einbezogen wird, kann das helfen, dass gerade bei außenpolitischen Fragen auch unterschiedliche europäische Länder wieder eine gemeinsame Haltung finden. Standard: Ist das CDU-Kerneuropakonzept - einige Staaten marschieren voran - noch aktuell? Merkel: Das Schengen-Abkommen oder der Euro zeigen, dass immer wieder bestimmte Staatengruppen vorangehen und sich noch nicht alle EU-Länder diesem anschließen. So etwas kann und soll es auch in Zukunft geben. Es darf aber nicht zu geschlossenen Klubs kommen, wie es sich leider auch bei der Ausgrenzung Österreichs gezeigt hat. Standard: Sind Sie über die US-Nachkriegspolitik im Irak enttäuscht? Merkel: Ich habe im letzten Jahr bedauert, dass Europa in dieser Frage keine einheitliche Haltung hatte. Und wir alle waren der Ansicht, dass eine weitere UN-Resolution wünschenswert gewesen wäre. Dass diese nicht zustande gekommen ist, daran hat auch die Uneinigkeit in Europa ihren Anteil gehabt. Damit müssen wir uns hier in Europa auseinander setzen. Ich wünsche mir ein Europa, das nicht nur beobachtet und kommentiert, sondern auch beeinflusst. Man wird nie hundert Prozent erreichen, aber ein gespaltenes Europa erreicht so gut wie gar nichts. Standard: Wäre nicht die Kritik Ihres Präsidentschaftskandidaten Horst Köhler an der Irakpolitik Anlass, die USA kritischer zu bewerten? Merkel: Wir haben immer gesagt, auch im letzten Jahr, dass alle Seiten Fehler gemacht haben. Meine Aufgabe als deutsche Politikerin ist es aber vor allen Dingen, mich mit der deutschen Politik auseinander zu setzen. Ich bin mir im Übrigen mit Horst Köhler einig, dass wir als Europäer die Zukunft nur mit Amerika und nicht gegen Amerika gestalten können. Standard: Glauben Sie, dass die Deutschen reif für eine Kanzlerin sind? Merkel: Ich will dazu nur so viel sagen: Die Gleichberechtigung von Mann und Frau steht seit über fünfzig Jahren im Grundgesetz. Standard: Würden Sie unterstützen, dass Wolfgang Schüssel EU-Kommissionspräsident wird? Merkel: Die Frage des nächsten Kommissionspräsidenten wird nach Ausgang der Europawahl entschieden. Wolfgang Schüssel ist mein politischer Freund, aber ich bitte um Verständnis, dass ich mich jetzt dazu nicht äußere. (DER STANDARD, Printausgabe, 5.5.2004)