Piran

Foto: Slowenische Tourismuszentrale/J. Skok
Erinnerung an Begegnungen in Piran, der kleinen slowenischen Stadt an der Nordwestspitze Istriens: Ein serbischer Wirt mit jugoslawischer Tito-Nostalgie und zwei freundliche albanische Eisverkäufer aus dem Kosovo. Von Karl-Markus Gauß. .

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Auf seiner geringen territorialen Fläche vereint Slowenien fast alle europäischen Landschaftsformationen: Das reicht von der Pannonischen Tiefebene im Osten über den Karst, die Alpenkämme mit ihren hohen Gipfeln und dem legendären Triglav, den jeder Slowene, da er nicht nach Mekka reist, einmal in seinem Leben bestiegen haben sollte, bis an die Küsten des Mittelmeeres. Erst recht in Istrien, von dem Slowenien nur ein kleiner Teil zugehört und das heute auf schmalen Landstraßen von Grenzen durchschnitten wird, die zu den historisch sinnwidrigsten gehören, die man sich nur denken kann, erst recht in Istrien empfindet der Besucher, dass er hier in ein Europa im Kleinen geraten ist, in dem vielleicht das große seine Probe halten wird.

Wie ein Piratenschiff

Piran, dicht gedrängt auf eine kleine Halbinsel, ragt an der nordwestlichen Spitze Istriens in der Form eines alten Piratenschiffes ins Meer. Seit Mitte der Achtzigerjahre waren wir jedes Jahr ein paar Wochen in Piran gewesen, meistens im September, bis die Bora, dieser Fallwind mit seinem unvergleichlichen Knattern, die Stadt über Nacht in einem Sturmangriff eroberte, die lockeren unter den Schindeln von den Dächern wischte und die Abfalltonnen die steilen Gassen abwärts donnern ließ.

Wer ein wenig in Piran flaniert, den wird es immer wieder an die Mole, italienisch Riva genannt, führen; das ist jene schmale Straße, die die dem Meer zugewandte Seite der Stadt im Bogen umfasst und mit großen Steinblöcken sichert, auf denen Kinder stundenlang spielen, aber auch Erwachsene, die noch nicht alles verlernt haben, zeitverloren dem Meer dabei zuschauen können, wie es gegen die aufeinander geschichteten Blöcke brandet. An der Spitze der Mole, wo sie ihre Kehre macht, stehen eine kleine Kirche, ein alter Leuchtturm - und ein Eissalon.

Der wurde all die Jahre von einem albanischen Brüderpaar geleitet, welches das beste Eis von Piran herstellte. Der eine der Brüder wurde jedes Jahr um ein Kilo schwerer, was sich im Laufe von zehn Jahren doch bemerkbar machte, der andere immer dünner. Sie werkten von elf Uhr vormittags bis spät in die Nacht in einem winzigen Salon, und eine dezente Höflichkeit schien ihnen offenbar so wesensgemäß zu sein, dass ich sie nie anders als freundlich, aber selbstbewusst erlebte.

Um neun Uhr abends, wenn das Geschäft am besten ging, spazierten meist zwei hübsche Frauen am Salon vorbei, die mit dem Kopftuch geradezu gegen die Kleiderordnung einer Badestadt zu verstoßen schienen, ließen ihre Kinderwagen kurz stehen und brachten ihren beiden Männern in einer Tasche jene Nahrung, deren auch Eisverkäufer bedürfen, die sich nun einmal nicht nur von dem Stoff ernähren können, mit dem sie ihre Existenz bestreiten.

Zwei-, dreihundert Meter weiter auf der nördlichen Seite der Mole tut sich aus dem Gewirr der Gässchen unerwartet ein Plätzchen auf, in dem damals ein kleines Gasthaus fast versteckt lag; es hatte eine dunkle, zumeist völlig leere Stube und ein paar Tische im Freien, um die sich die Besucher rissen, weil man von hier aus auf das Meer schauen und die besten Muscheln essen konnte. Das Wirtshaus hieß "Galeb", "die Möwe", und die meisten Gäste, bedient von einer flinken Wirtin, werden sich das Innere des Lokals kaum je genauer angeschaut haben. Dies war das Reich des Kochs, der ein bisschen aussah wie jener Peppone, der in den Filmen mit Don Camillo bekanntlich ein wenig wie Väterchen Stalin aussehen sollte.

Jugoslawiens Traum

Als Slowenien als erste der jugoslawischen Teilrepubliken seine Unabhängigkeit erklärte, haben viele, die sich ihren jugoslawischen Traum erhalten wollten, den Slowenen das übel genommen. Als hätte purer ökonomischer Egoismus sie veranlasst, mutwillig ein sozialistisches Reich vieler Völker zu zerstören, galten die Slowenen auch bei manchen meiner österreichischen Freunde als jene Verräter, die Jugoslawien eigennützig zu zerstören begonnen hatten.

Auch mir war Jugoslawien bis zuletzt etwas wert gewesen, doch habe ich mich von älteren Freunden wie Paul Parin, der einst für das sozialistische Jugoslawien als Partisan gegen die Faschisten gekämpft hatte, und von jüngeren wie dem Schriftsteller Drago Jancar in zweierlei belehren lassen. Erstens, dass die einstige multinationale Struktur Jugoslawiens der Nomenklatura gerade auch in Serbien längst dazu diente, ihre nationalistischen Interessen ideologisch zu verbrämen; und zweitens, dass man nicht andere dazu nötigen darf, für seinen eigenen Traum von einer gerechten, sozialistischen Gesellschaft zu bezahlen.

Drago Jancar hat in seinen Essays überzeugend nachgewiesen, dass aus der vorgeblichen Multinationalität längst eine verlogene Zwangsordnung geworden war und Slowenien historisch übrigens nur siebzig Jahre in einem sich als südslawisch definierenden Staat verbracht hatte, mehr als ein halbes Jahrtausend aber nord- und westwärts orientiert gewesen war.

Und trotzdem: Die verheerenden Balkankriege, die Slowenien nur gestreift hatten, waren bereits fast zu Ende, doch in meinem "Galeb" hing über der Tür zur Küche, aus der der wortkarge Wirt nur selten herauslugte, noch immer das Bildnis des Marschalls Tito. Dieses Gasthaus war vielleicht die letzte funktionierende jugoslawische Institution in Slowenien.

Zwei-, dreihundert Meter weiter schufteten die beiden Albaner, die mir schon vor Jahren unverhohlen zu erkennen gegeben hatten, dass sie einen Gutteil ihres Geldes in den Kosovo schickten, und nicht nur, um arme Familienangehörige zu unterstützen; Kosova, wie sie es nannten, hatte übrigens zu Titos Zeiten noch den Status einer autonomen Provinz gehabt, der unter seinen Nachfolgern rigoros beseitigt wurde, und nachträglich, da es beide Lokalitäten nicht mehr gibt, denke ich mir, dass sich immerhin über dieses Unrecht der serbische Wirt und die albanischen Eisverkäufer vielleicht hätten verständigen können.

Seit einigen Jahren ist der schädliche wie schändliche Wettkampf im Gange, wer von den Ländern des Balkans nicht mehr zu jener Domäne der Barbaren, sondern zu Europa gerechnet werden darf, diesem Reich der Humanität und des Wohlstands, aus dem die verderbliche Ideologie des Nationalstaates einst überhaupt erst auf den Balkan exportiert worden war. Zu meinem Slowenien gehören jedenfalls auch der einsame Wirt, der sich weigerte, von Jugoslawien zu lassen, und jene albanischen Eisverkäufer, die ihr schwer verdientes Geld nach Pristina bringen ließen.

Und Slowenien, nach der Euphorie des Aufbruchs, auf die eine ziemlich rücksichtslose Ära der Kommerzialisierung folgte, wird gut daran tun, nicht zu vergessen, was zweifellos seine geografische Besonderheit ausmacht, vielleicht aber auch seine Bedeutung für die Europäische Union erheblich stärken könnte: nicht Westen, sondern auch Osten, nicht Norden, sondern auch Süden zu sein und sogar etwas von jenem heute so selbstvergessen abgelehnten Balkan zu haben. (DER STANDARD, Printausgabe, 10.5.2004)

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Karl-Markus Gauß, Jahrgang 1954, beschäftigt sich als Herausgeber der Zeitschrift "Literatur und Kritik" sowie als Buchautor seit zwanzig Jahren mit den Rändern Europas. Zuletzt fand sein Buch "Die Hundeesser von Svinia" über die Ärmsten unter den Roma der Slowakei (Zsolnay Verlag, 2004) große Beachtung.