Außer Spesen nichts gewesen - das scheint doch nicht das Motto des EU-Wahlkampfs zu werden. Auch aus Sorge, in Hans-Peter Martins Privilegienfalle zu tappen, haben Österreichs Parteien ein neues Themenfeld eröffnet: den EU- Beitritt der Türkei. Mit Alfred Gusenbauer spricht sich der SPÖ-Chef dagegen aus; Ursula Stenzel deponiert für die ÖVP ihr Nein; und in der FPÖ hat der neue Scharfmacher Heinz- Christian Strache das Wettern gegen ein potenzielles EU- Mitglied Türkei als Kampag^nenthema entdeckt, das nahtlos an blaue Antiausländerwahlkämpfe anschließt.

Mit Ängsten vor dem Ansturm der Türken auf Brüssel lässt sich leicht Stimmung machen. Wenn dazu die Religionskeule geschwungen und die christliche Tradition Europas gegen den Islam verteidigt wird, dann sind auch Österreichs Bischöfe beim Nein dabei und warnen vor einer veränderten "Leitkultur" Europas. Damit ist mit Zeitverzögerung die Türkei-Debatte aus Deutschland nach Österreich herübergeschwappt. Und spaltet die Parteien: Überall finden sich neben Neinsagern auch Befürworter. In der SPÖ etwa Heinz Fischer; in der FPÖ - ausgerechnet - Jörg Haider. Nur Kanzler Wolfgang Schüssel hat sich für die Regierung noch nicht zu einer klaren Meinung aufgerafft.

Das Thema aus dem Wahlkampf herauszuhalten mag ein weiser Weg sein - gerade mit einem Koalitionspartner FPÖ. Allzu viel Zeit bleibt für eine Meinungsbildung nicht: Im Herbst präsentiert die EU- Kommission einen Bericht, in dem die Fortschritte der Türkei aufgelistet werden. Danach entscheiden Staats- und Regierungschefs, ob die Türkei die wirtschaftlichen und politischen Anforderungen für einen Beitritt erfüllt. Beziehungsweise - ob die von Verfassungskrisen gebeutelte EU reif für die Türkei ist.

Seit 40 Jahren sitzt die Türkei im Wartesaal Europas, 1999 hat sie es immerhin zum Statuts des Kandidatenlandes gebracht. Die Befürworter der Idee, die EU bis über den Bosporus auszudehnen, werden nicht müde aufzuzählen, zu welchen Reformen allein die Verheißung eines EU-Beitritts in der Türkei schon geführt hat: Die Todesstrafe ist Geschichte; in der Zypern-Frage wurde überraschend eingelenkt. Allerdings: Der angebliche Fortschrittsmotor, der Türkei den EU-Beitritt wie eine Karotte vor die Nase zu halten, hat etwa bisher Minderheiten - Stichwort Kurden - bei weitem nicht alle Bürgerrechte gebracht.

Ebenso laut werden ökonomische Argumente angeführt: Das Osteuropa-Institut München rechnet damit, dass ein Beitritt der Türkei Nettotransfers von jährlich 14 Milliarden kosten und allein die Aufnahme von 26 Millionen türkischen Bauern die Grenzen

der Finanzierbarkeit sprengen würde. Schon deshalb, weil die Türkei so viele Einwohner hat wie alle zehn Neumitglieder zusammen. Und auch deren Beitritt muss die EU erst einmal verdauen.

Von solch kleingeistigen Rechnungen lassen sich Eu^ropavisionäre wie Joschka Fischer nicht irritieren. Was mit Polen gelang, muss mit der Türkei zu schaffen sein - und wichtiger als Eurozählen ist für Fischer und Co das strategische Argument: Einen Staat mit einem moderaten Islam zum EU-Partner zu machen, das hätte enorme Wirkung auf die islamische Welt, für die Ausbreitung der Demokratie unterm Halbmond und könnte ein Puffer gegen gefährliche Instabilität sein.

Eine schöne Friedensidee, die den Nachteil vieler Fragezeichen hat. Bis 2015 - und früher soll die Türkei nicht aufgenommen werden - ist aber ausreichend Zeit, aus Fragezeichen Antworten zu machen. Mit dem Beitritt der neuen EU-Mitglieder, die teilweise wie die Türkei über die Nato der USA verbunden sind, steigt jedenfalls der Druck, die Türkei nicht ewig im Wartesaal zu belassen. Sondern die Signalschilder auf Rot oder Grün für Verhandlungen zu stellen. Wobei Grün noch lange nicht bedeutet, dass die Türkei ihren Zielbahnhof EU erreicht - sondern dass einmal die Fahrt aufgenommen wird.

Sofern nicht schrille Wahlkämpfer die Weichen anders stellen. Oder blockieren. (DER STANDARD, Printausgabe, 11.5.2004)