Moskau - Im Rahmen der internationalen Konferenz in Moskau zum Thema "Die Rote Armee in Österreich 1945 bis 1955" hat in einem eher kritisch gehaltenen Referat Tofik Islamow von der Russischen Akademie der Wissenschaften am Donnerstag die gängige Interpretation heimischer Historiker bezüglich der Präsenz der Roten Armee auf österreichischem Territorium hinterfragt. "In Österreich wird in diesem Zusammenhang immer nur von "Besatzung" gesprochen, von Gewaltanwendung und Rechtsverletzungen. Nolens, volens wird die These der 'Befreiung' in Frage gestellt", spielte Islamow auf die positive Rolle der sowjetischen Truppen nach dem Zweiten Weltkrieg in Österreich an.

Eine weitere Kritik des russischen Wissenschafters zielte darauf ab, dass es in der österreichischen Geschichtsschreibung immer wieder die These geäußert werde, wonach Österreich das erste Opfer NS-Deutschlands gewesen sei. Islamow widersprach dem mit dem Argument, dass sich beim Referendum von 1938 über 99 Prozent der Österreicher für den "Anschluss" an Hitler-Deutschland ausgesprochen hatten. Dass das besetzte Land "an der Seite des faschistischen Deutschlands" am Krieg teilgenommen habe, sei auch in der Moskauer Deklaration von 1943 festgehalten, untermauerte der Historiker seine Darstellung und wies auf die "Samariterrolle" der Besatzungsmächte hin: "Die Österreicher gerieten in die faschistische Falle und wurden von den Alliierten befreit."

Gewisses Misstrauen

In diesem Sinne sei es zu verstehen, dass es ein gewisses Misstrauen zwischen der sowjetischen Besatzungsmacht und der österreichischen Bevölkerung nach den ersten Wahlen von 1945 gegeben habe, bei denen die KPÖ ein Fiasko erlitt. "Die Österreicher haben mit ihrem Votum einen pro-westlichen Kurs eingeschlagen." Das dadurch entstandene Vertrauensdefizit seitens der sowjetischen Besatzungsmacht komme in neuen Dokumenten zum Ausdruck, welche von den Forschern noch studiert werden müssten.

Kontroverse Entnazifizierung

Für eine regelrechte Kontroverse sorgte zu Ende des ersten Tages ein Vortrag der jungen russischen Forscherin Olga Gorlowa, die das für Österreich heiße Eisen der "Entnazifizierung in der sowjetischen Besatzungszone 1945-1955" anfasste. Sich auf offenbar einseitige russische (Propaganda-)Quellen stützend, stellte Gorlowa die radikale These in den Raum, dass es auch noch nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in Österreich zu einer Nazifizierungswelle gekommen sei. So habe Ende 1946 im Lande noch der Grundsatz in der heimischen Bevölkerung gegolten: "Faschismus ist nicht schlecht als Idee - schlecht war nur seine Umsetzung."

Gorlowa versuchte ihre Thesen unter anderem mit dem Beispiel eines Plakats zu untermauern, dass angeblich in der Nachkriegszeit in Neusiedl am See angeschlagen wurde und auf dem zu lesen stand: "Der beste Österreicher ist ein Deutscher; und wer ein Deutscher ist, ist für Hitler-Deutschland." Die russische Forscherin kam in ihrem Vortrag zum Schluss, dass es keine klare Antwort auf die Frage nach dem Erfolg des Entnazifizierungsprozesses in Österreich gebe.

Gegenreaktionen

Gorlowas Referat rief in einer anschließenden Diskussionsrunde heftige Gegenreaktionen von Seiten des anwesenden österreichischen Publikums hervor. Als Erster meldete sich der Initiator der Konferenz, der Grazer Historiker Stefan Karner, zu Wort: "Zu behaupten, in Österreich habe es Ende der 40er Jahre eine neue Nazifizierungswelle gegeben, ist schlicht und einfach falsch. Man kann nicht einige Beispiele von Zeitzeugen als pars pro toto nennen."

Auch Barbara Stelzl-Marx, Karners Stellvertreterin am Ludwig Boltzmann Institut für Kriegsfolgenforschung, hielt dagegen, dass es für einen Wissenschafter angebracht sei, einen wesentlich quellenkritischeren Zugang besonders zu einem so heiklen Thema wie jenem der Entnazifizierungsprozesse zu wählen. Peter Sixl vom Grazer Schwarzen Kreuz, der zuvor einen spannenden Vortrag über die "Erfassung der gefallenen Rotarmisten in der Steiermark" gehalten hatte, bezeichnete den gesamten Gorlowa-Vortrag als "Verunglimpfung der (österreichischen) Nation".

Diplomatie ...

Karner versuchte letzten Endes die aufgekommenen Wogen auf diplomatische Art zu glätten, indem er die relative Unerfahrenheit der jungen russischen Forscherin als Ursache für deren haltlose Thesen auszumachen versuchte: "Geschichte ist nicht immer schwarz-weiß, sondern auch grau. Kollegin Gorlowa wird im Laufe ihrer wissenschaftlichen Karriere noch erfahren, dass Geschichte in Grautönen unterschieden werden muss." (APA)