Nehrus Zauber hat wieder gewirkt. Als wär’s ein Roman von Salman Rushdie, hat der Vater des modernen Indien aus dem Grabe heraus in der größten Demokratie der Welt ein politisches Erdbeben ausgelöst. Die konservativ-nationalistische Hindu-Partei BJP hat wider alle Prognosen die Wahl gegen eine Frau verloren, deren politische Anziehungskraft nur daraus besteht, dass sie die Witwe von Nehrus Enkelsohn Rajiv Gandhi und die Mutter seiner Urenkel Rahul und Priyanka ist.

Sonia Gandhi hat mit großem Einsatz um jede Stimme im Riesenland gekämpft, doch die Menschen kamen weniger, um die gebürtige Italienerin mit starkem Akzent über aktuelle Probleme des Landes reden zu hören, sondern um ein leibhaftiges Mitglied von Indiens erster Familie zu sehen. Ihre Kongress-Partei steht so ziemlich ohne Ideologie, ohne Programm und ohne Führung da, sie ist fürs Regieren kaum vorbereitet. Aber im Nachhinein hat sich die Entscheidung der Parteigranden, alles auf den Namen Gandhi zu setzen, als goldrichtig erwiesen.

Das ist der rein indische Erzählstrang hinter diesem sensationellen Wahlausgang. Aber es steckt auch eine andere Story darin, die überall in der Welt passieren könnte. Hier war eine Partei und ein Premier, die einen entschlossenen wirtschaftlichen Reformkurs verfolgt haben, der den einstigen Komapatienten in einen Hindu-Tiger verwandelt hat, dessen Wettbewerbsfähigkeit selbst die USA und die EU fürchten. Doch trotz eines kräftigen Wachstums und einer im Vergleich mit früher vernünftigen Außenpolitik wird die Regierung abgewählt, weil sie ihre Leistungen mit dem hochmütigen Slogan "leuchtendes Indien" überverkauft hat und Hunderte Millionen Menschen vor allem auf dem Land vom Aufschwung nichts zu spüren bekommen. Auch in Europa wurden schon erfolgreiche Regierungen aus ähnlichen Gründen in die Wüste geschickt.

Indien hat mit der reibungslosen Ablöse der BJP erneut seine hohe politische Reife bewiesen. Trotz großer Armut und gelegentlicher Gewaltausbrüche funktioniert die Demokratie, wenn es wirklich darauf ankommt. Die wachsende elektronische Vernetzung des Landes kompensiert dabei zum Teil den hohen Analphabetismus und die Rückständigkeit.

Ein klares politisches Mandat hat Gandhi nicht gewonnen, aber das kann in dieser Situation sogar ein Vorteil sein. Denn eine Abkehr vom Kurs der Wirtschaftsliberalisierung, der unter ihrem Gatten Rajiv einst eingeleitet wurde, wäre ein katastrophaler Fehler, der auch den Ärmsten des Landes wenig nutzen würde. Die erfolgreichen Kommunisten könnten sich als schwieriger Partner erweisen, aber in ihrer Hochburg Kalkutta haben sie sich zuletzt ähnlich wirtschaftsfreundlich gezeigt wie ihre chinesischen Genossen. Die freundlichen Reaktionen der Börse in Bombay und Pakistan auf den Machtwechsel zeigen, dass niemand mit drastischen Veränderungen rechnet. Indiens größtes Risiko ist in diesem Moment Sonia Gandhis fehlende politische Erfahrung. Im harten Regierungsalltag wird ihr der Zauber Jawaharal Nehrus wenig nützen. (DER STANDARD, Print-Ausgabe vom 14.5.2004)