Sonia Gandhi hat mit großem Einsatz um jede Stimme im Riesenland gekämpft, doch die Menschen kamen weniger, um die gebürtige Italienerin mit starkem Akzent über aktuelle Probleme des Landes reden zu hören, sondern um ein leibhaftiges Mitglied von Indiens erster Familie zu sehen. Ihre Kongress-Partei steht so ziemlich ohne Ideologie, ohne Programm und ohne Führung da, sie ist fürs Regieren kaum vorbereitet. Aber im Nachhinein hat sich die Entscheidung der Parteigranden, alles auf den Namen Gandhi zu setzen, als goldrichtig erwiesen.
Das ist der rein indische Erzählstrang hinter diesem sensationellen Wahlausgang. Aber es steckt auch eine andere Story darin, die überall in der Welt passieren könnte. Hier war eine Partei und ein Premier, die einen entschlossenen wirtschaftlichen Reformkurs verfolgt haben, der den einstigen Komapatienten in einen Hindu-Tiger verwandelt hat, dessen Wettbewerbsfähigkeit selbst die USA und die EU fürchten. Doch trotz eines kräftigen Wachstums und einer im Vergleich mit früher vernünftigen Außenpolitik wird die Regierung abgewählt, weil sie ihre Leistungen mit dem hochmütigen Slogan "leuchtendes Indien" überverkauft hat und Hunderte Millionen Menschen vor allem auf dem Land vom Aufschwung nichts zu spüren bekommen. Auch in Europa wurden schon erfolgreiche Regierungen aus ähnlichen Gründen in die Wüste geschickt.
Indien hat mit der reibungslosen Ablöse der BJP erneut seine hohe politische Reife bewiesen. Trotz großer Armut und gelegentlicher Gewaltausbrüche funktioniert die Demokratie, wenn es wirklich darauf ankommt. Die wachsende elektronische Vernetzung des Landes kompensiert dabei zum Teil den hohen Analphabetismus und die Rückständigkeit.