Rom/Zürich/Berlin - Internationale Tageszeitungen werten die überraschende Niederlage der regierenden Hindu-Nationalisten bei der indischen Parlamentswahl mehrheitlich als Votum der armen Landbevölkerung gegen das von der Regierung vermittelte Selbstbild eines "strahlenden" Landes. In der Außenpolitik erwarten die Kommentatoren unter der künftigen Ministerpräsidentin Sonia Gandhi einen konzilianteren Kurs der aufstrebenden Großmacht in Asien.

***

La Stampa

"Das andere große Problem von Frau Gandhi und ihrer Kongresspartei geht die Außenpolitik an, was für Indien vor allem, wenn auch nicht ausschließlich, die Beziehungen zu Pakistan bedeutet, diesem entscheidenden und instabilen moslemischen Land, ein Nuklearland wie auch Indien, das noch dazu ein Objekt der (atomaren) Begierde von El Kaida ist. Das Tauwetter zwischen Neu-Delhi und Islamabad, trotz der Kaschmirfrage, das von der bisherigen indischen Regierung erreicht wurde, geht die ganze Welt an. Sonia hat versprochen, dass sie diesen Kurs nicht ändern wird. Glückwunsch an Sie und an uns alle."

Süddeutsche Zeitung

"Die Wahl geriet für die Hindu-Nationalisten (BJP) zum Debakel und für die Welt zum Lehrstück für die politische Dynamik der Globalisierung. Indien, zerrissen zwischen Armut und High-Tech, sucht nach seinem Weg in die Moderne. Auf dem Subkontinent finden sich Nutznießer, aber auch viele Verlierer der globalisierten Wirtschaft. Im Votum zeigt sich die Kluft in der Gesellschaft - so klar wie selten zuvor."

Frankfurter Allgemeine Zeitung

"Zu den irritierenden Lehren aus der Wahl zählt, wie wenig vertraut große Teile der indischen Eliten mit ihrer Heimat sind. In den vergangenen Monaten war es fast unmöglich, in der Regierung, in der Wirtschaft, in den Medien oder in den Meinungsforschungsinstituten jemanden zu treffen, der nicht die Wiederwahl der Koalition voraussagte. (...) Das Wahlergebnis hat Indien möglicherweise geerdet. Die nächste Regierung wird den Mund voraussichtlich weniger voll nehmen. Wo die alte Regierung von einem Spitzenplatz in der "multipolaren Weltordnung" träumte, wird sich die neue vielleicht stärker auf den sozialen Ausgleich im Inneren konzentrieren. Ein substanzieller Kurswechsel ist gleichwohl nicht zu erwarten, selbst wenn Frau Gandhi die Kommunisten in die Koalition holt."

taz, Berlin

"In Indien hat sich im letzten Jahrzehnt eine kaufkräftige Mittelschicht herausgebildet, und die Softwareindustrie erlangte Weltruhm. Doch die Wahlen werden immer noch in den Dörfern entschieden, wo weiterhin die Bevölkerungsmehrheit lebt. Dort geht es weniger um die umstrittene Ideologie der als "Hindufaschisten" beschimpften BJP als vielmehr um die gerechte Teilhabe an den Früchten der Entwicklung. Die Landbevölkerung aber fühlt sich nicht nur vom Boom in den Städten abgekoppelt, sondern sieht sich auch als Opfer der Globalisierung. "India shining", der Wahlslogan der BJP, klingt für viele Not leidende Bauern wie Hohn. (...) Die eigentliche Botschaft dieser Wahlen ist: Indiens Landbevölkerung verlangt Gehör. Computer sind nicht alles." Neue Zürcher Zeitung "Die neue Regierung in Delhi wird homogener sein als ihre Vorgängerin. Die Allianz der Kongresspartei kommt zusammen mit den Stimmen der erstarkten Linksparteien auf eine komfortable Mehrheit. Sonia Gandhi wird somit nicht wie Vajpayee auf die Unterstützung mehrerer Regional- und Kastenparteien angewiesen sein, was ihr das Regieren enorm erleichtern dürfte. Der Kurs der neuen Koalition wird sich kaum grundlegend von jenem der BJP unterscheiden. Die Kongresspartei hat im Wahlkampf betont, im Falle eines Sieges an der Reformpolitik festzuhalten. Auch in der Außenpolitik wird sie kaum vom eingeschlagenen Pfad - der strategischen Partnerschaft mit den USA und der Annäherung an Pakistan - abweichen. Dies stimmt optimistisch für die Zukunft Indiens." Liberation, Paris "Ihre unerwartete Niederlage ist nicht nur ein Rückschlag für die nationalistische und religiöse Rechte in Indien. Sie ruft auch die sozialen Realitäten in Erinnerung, die Kehrseite der Medaille des Wirtschaftsaufschwungs, den der geschlagene Premierminister für ein unschlagbares Wahlkampfargument gehalten hat. (...) Die Kongresspartei steht nun vor der Herausforderung, die Ärmsten an den Nutzen des Wachstums teilhaben zu lassen, ohne für die anderen die profitable Maschine kaputt zu machen. (...) Der legendäre Schlendrian der indischen Verwaltung hat sich immer gut mit dem Hause Gandhi arrangiert (...)." Financial Times "In einer überraschenden Wende hat die Witwe des ermordeten Rajiv Gandhi die indische Kongress-Partei zurück an die Macht geführt. Dies ist eine bemerkenswerte Übung in Demokratie in einer der größten und unberechenbarsten Demokratien der Welt. Sonia Gandhi, bisher eher als ein Relikt aus der Nehru und Gandhi-Dynastie betrachtet, hat jeden Anspruch auf die Führung Indiens. Ihre Kongress-Partei hat damit begonnen, die unterentwickelte indische Kommandowirtschaft nach außen zu öffnen. Es ist damit zu rechnen, dass unter ihrer Führung die Reformen fortgesetzt werden. Vieles hängt jetzt von der Regierungsbildung ab." (APA/dpa)