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Dragan Velikic:
Dossier Domaszewski
marebuchverlag, Hamburg 2004

Foto: Archiv
Ob blinde Passagiere aus Fleisch oder Blut oder Gespenster, mit denen man sich auf Zeit befreundet, sie hinterlassen die gleichen Spuren, denn auch die Vergangenheit, die nie eine Gegenwart war, besteht aus den unverrückbaren Tatsachen einer geträumten Zukunft." Ein programmatischer Satz für den Belgrader Autor Dragan Velikic (Jg. 1953), der so wie seine Protagonisten ein Spieler mit fremden Lebensresten ist. Diese dienen ihm gleichsam als Bestellformulare dichter Augenblicke, von deren evozierter Dingmystik der Leser gemeinsam mit den Figuren zehren kann. Der nomadische Exjournalist macht so immer wieder das kulturelle Gedächtnis zum Thema - in jener imaginären Geografie namens "Mitteleuropa", die für eine melancholische Ernte besonders ergiebig scheint.

Diesmal heißt die traumverlorene Hauptfigur Adam Vasic. Er reist zur dreißigsten Maturafeier nach Pula, dem ehemaligen k. u. k. Kriegshafen, zugleich Kindheitsstadt des Autors. Auch Vasic ist das Lustprinzip eigen, in anderen Biografien, Geschichten und Erinnerungsobjekten zu schwelgen. Hier jedoch ist er konfrontiert mit der "Tatsache, sich im eigenen Leben zu bewegen", das ihm dennoch zum "Repertoire" gerinnt.

Die "Inventarisierung" von Zufallsbegegnungen ist schon das Hobby der Jugendfreunde Adam und Stevan gewesen, die "endlose Komposition des Vergänglichen": "Verlebendigen, das hieß vor allem erweitern, (. . .) ein ganzes unbekanntes Leben zu erschaffen, das in den wenigen Silben eines Namens verborgen lag", also etwa die Wohnungseinrichtung einer alternden Prostituierten zusammenzufantasieren. Oder einem fremden Passanten ein interessanteres Leben zu erfinden: "Wir spekulierten, ob jemand krank war. Was sein Lieblingsessen war. Ob er glücklich war. Und wann er sterben würde."

In der erzählten Gegenwart hat Stevan den Bezug zu jener Weltkonstruktion namens "Realität" bereits weitgehend verloren; er lebt, von der Vergangenheit besessen, unter dem Spitznamen "Signor Memoria" in einem Asyl, das der offenen Triestiner Irrenanstalt Franco Basaglias nachempfunden ist. Auf den anderen Spielgefährten wiederum lastet schwer ihr faktischer Lebenslauf: "Zwei zerbrochene Ehen, die Arbeit in der Bank von sieben bis vier, Liebesabenteuer, Alkohol."

Adams Reise zurück in die Jugend nimmt ihren Anfang am Bahnhof von Mattersburg, tastet sich vor ins Weichbild Pulas, vorbei an jugoslawischen Wasserkaraffen, altitalienischen Pissoirs, an der Villa des Kunsteisfabrikanten Kupelwieser, an Orten der Begegnung und des beglückend juvenilen Geschlechtsverkehrs. Die istrische Küstenstadt ist aber auch der Ort permanenter Systemwechsel, von Österreich-Ungarn zu Italien, von Jugoslawien zu Kroatien, kurzum eine Begegnung "mit dem Appendix einer weiteren Grenze": "Adam empfand Ekel vor der Weisheit, die aus dem Beifall entstand, und verachtete das Mühelose der Rochade. Er genoss die eigene Loyalität gegenüber den Kombinationen der Verlierer. Darin lag für ihn der Reiz der eigenen Verlorenheit; oder war es vielmehr eine Krankheit, das Verlangen, jede Ferne durch unendliche Mäander zu beherrschen?"

Kennzeichnend für Velikic und seine Protagonisten, die vor dem (jugoslawischen?) Leben davonlaufen und es nur secondhand ertragen können, ist ein Erzählton, den man sensuell essayistisch nennen möchte. Wenig geschieht, doch dieses Wenige, Flüchtige gewinnt eine Intensität, die Gedanken-Gänge vorantreibt. Der vorliegende Roman wirkt auf den Rezensenten allerdings ein wenig wie ein Remake des letzten, großartigen (Der Fall Bremen, 2002), der drei Belgrader Generationen leichtfüßig durchschritt. Diesmal bleibt das Eintauchen in das individuelle und kollektive Gedächtnis Zentraleuropas etwas oberflächlicher und die Reflexionen vorhersehbarer. Auch in ihrer Wortwahl, wenn es etwa heißt: "Der Gedanke bewegte sich im Kristall des Präsens." Oder wenn Erinnerung mit einem "Tresor" verglichen wird. Solche Formulierungen wird man im Fall Bremen vergeblich suchen; er gehört zu den wenigen Texten der Weltliteratur, in der nahezu jeder Satz zu "sitzen" scheint, ohne auf Vorangegangenem sitzen zu bleiben.

Das Gedächtnis-Spiel ist wie gesagt fadenscheiniger geworden. So bleibt die titelgebende Figur des Viktor von Domaszewski, galizischer Edelmann "aus dem Kreis Tarnów" und k. u. k. Hafenarchitekt, ein wenig schemenhaft. Es ist nicht ganz klar, warum seine Vita (die man in Geschichtsbüchern vergeblich suchen wird) für diesen Roman, den verschwundenen Stevan und seine Welt, so wichtig sein soll, während anderes ausgeblendet bleibt.

Biografisch hat es den Autor ja fast ebenso herumgetrieben wie seine Titelfiguren, unter anderem nach München, Berlin, Wien (und kurz auch nach Mattersburg). Domaszewski reiste im neunzehnten Jahrhundert durch Europa auf der Suche nach der perfekten Hafenanlage, die er sich letzten Endes nur als Komposition aller Welthäfen vorstellen konnte - und die im habsburgisch-asketischen Österreich ungebaut bleiben sollte. Es fragt sich nun, welcher Hafen die nächste Erinnerungsstation von Velikic sein wird. Wie er selbst so schön sagt: "Die Welt ist eine Collage." (ALBUM/ DER STANDARD, Printausgabe, 15./16.5.2004)