An der 113. Straße in Phnom Penh prallen die einander überlagernden Wirklichkeiten Kambodschas mit fast zynischer Brutalität aufeinander. Dort gibt es das nostalgische Boddhi-Tree-Guesthouse mit seinen von Orchideen überrankten Holzbalkonen und den eleganten Gartenmöbeln im Schatten von wucherndem Grün. Eine stille Oase gehobener Lebensart in dieser lauten, staubigen, versehrten Stadt. Der Name erinnert an das buddhistische Erbe Kambodschas: War es doch ein Boddhi-Baum, unter dem Siddharta Gautama durch anhaltendes Meditieren seine Erleuchtung fand und zu Buddha wurde. Direkt auf der anderen Seite der holprigen Schotterstraße steht das Gebäude der ehemaligen Tuol Svay Prey Mittelschule, in dem vor über drei Jahrzehnten auch das Meditieren unterrichtet wurde. Eine der vielen geistigen Fertigkeiten, die nach der Machtübernahme der Roten Khmer am 17. April 1975 bei derer Umgestaltung Kambodschas in einen totalitären Agrarstaat nicht mehr gefragt waren. Innerhalb weniger Tage wurden damals alle Städte evakuiert und Millionen Menschen zur Arbeit in landwirtschaftlichen Kollektiven gezwungen, wo viele an Unterernährung und Erschöpfung starben. Privateigentum und Geld wurden abgeschafft, Schulen und Pagoden geschlossen, Religionsausübung und höhere Schulbildung mit dem Tod bestraft. In den drei Jahren, acht Monaten und 20 Tagen, die sich die Roten Khmer unter der Führung von Pol Pot an der Macht halten konnten, starben zwischen 1,4 und zwei Millionen Kambodschaner an den Folgen dieser Politik. Etwa 400.000 bis 600.000 Menschen wurden umgebracht, ein Drittel davon auf den "Killing Fields" und in Foltergefängnissen.

Eines dieser Gefängnisse, das S 21 oder Tuol Sleng, wurde in der Mittelschule an der 113. Straße eingerichtet. Von Mai 1976 bis zur vietnamesischen Invasion im Jänner 1979 wurden hier an die 20.000 Menschen inhaftiert und gefoltert. Jene, die nicht schon in Tuol Sleng an den Folterungen starben, wurden nach Choeung Ek gebracht, einem Reisfeld 14 Kilometer außerhalb von Phnom Penh. Wie auf den vielen anderen über ganz Kambodscha verstreuten "Killing Fields" mussten die Gefangenen dort ihre eigenen Massengräber schaufeln, bevor sie von den Soldaten der Roten Khmer mit Hacken totgeschlagen wurden.

Seit 1980 ist das S 21 Teil des Tuol-Sleng-Museums. In den Mauern der Einzel- und Massenzellen sind noch die Löcher für die Eisenstangen zu sehen, an die man die Gefangenen gekettet hatte. Die Porträts von ausgemergelten Männern, Frauen und Kindern, die mit vor Angst erstarrten Gesichtern in die Kamera blicken, füllen mehrere Räume. Fein säuberlich wurden sie nummeriert und fotografiert, bevor man sie ermordete. Auf großformatigen Ölbildern nehmen die im S 21 praktizierten Foltermethoden realistische Form an: In jener Szene etwa, wo einem am Boden liegenden Gefangenen mit einer Zange die Fingernägel herausgerissen werden. Oder in der Darstellung einer nackten, an Hand- und Fußgelenken an ein großes Brett gefesselten Frau, deren Peiniger gerade eine Metallzange an ihre Brustwarze setzt. Alltagsszenen aus Tuol Sleng. Von den Tausenden hier inhaftierten und gefolterten Menschen überlebten nur sieben. Einer von ihnen ist Vann Nath, der Maler der im Tuol-Sleng-Museum ausgestellten Bilder.

Den wahren Grund seiner Inhaftierung im Dezember 1977 weiß der 58-Jährige bis heute nicht: "In den Dörfern wurden laufend Männer verhaftet. Einfache Bauern, die sich nie um Politik gekümmert hatten." Im S 21 fand er heraus, dass man ihn für einen Agenten der CIA oder des KGB hielt. Eine absurde Anschuldigung, doch unter Folter gestanden die Menschen praktisch alles. Über 10.000 solcher "Geständnisse" fand man später in Tuol Sleng. Er selbst wurde nicht gefoltert, weil er als ausgebildeter Maler für die Roten Khmer lebendig nützlicher war als tot: Er wurde gebraucht, um Porträts von Pol Pot zu malen: "Ich wusste, dass ich sterben würde, wenn ich es nicht gut genug war. Ich malte praktisch um mein Leben." Während seiner einjährigen Haft entstanden acht riesige Porträts vom "Bruder Nr.1". Durch seine Fähigkeit zu malen bekam er zumindest so viel zu essen, dass er nicht verhungerte, und musste nach einem Monat auch nicht mehr in der Massenzelle schlafen. "In diesen Zellen", erinnert sich Vann Nath, "waren 50 Gefangene untergebracht, die mit Eisenringen um die Fußgelenke an lange Stahlstangen gefesselt auf dem nackten Boden lagen - manche monatelang. Wollte jemand seine Liegeposition verändern oder seine Notdurft verrichten, musste er die Wachen um Erlaubnis fragen."

Obwohl Vann Nath gemeinsam mit einigen anderen Handwerkern in einer Art Arbeitszimmer untergebracht war und die Folterungen der anderen Insassen nicht unmittelbar gesehen hat, ahnte er, was sich in seiner Umgebung abspielte. "Ich hörte ihre Schmerzensschreie. Ich sah sie, wenn sie aus den Verhörräumen herausgebracht wurden". Viele Szenen auf seinen im Tuol-Sleng-Museum ausgestellten Folterbildern basieren auf Berichten der wenigen anderen Überlebenden. Sie entstanden kurz nach der Vertreibung der Roten Khmer durch die Vietnamesen. Seither sind fast 25 Jahre vergangen. Heute malt er idyllische Landschaften - die Vergangenheit ist auch so nahe genug.

Die ehemaligen Täter leben heute unbehelligt neben den Opfern von einst. Vor einigen Jahren traf Vann Nath bei Dreharbeiten zu einem Dokumentarfilm über das S 21 Huy den so genannten ehemaligen "Schlächter von Tuol Sleng": "Ich hatte die gleiche unbeschreibliche Angst wie damals, auch wenn Huy nur noch ein machtloser, kleiner Bauer war." Keine Rachegefühle? "Nein", sagt Vann Nath, er ist psychisch intensiv vorbereitet in diese Begegnung gegangen. Er habe Huy seine Gemälde gezeigt, ihn gefragt, ob sie die Wahrheit darstellen oder übertrieben seien. "Die Wirklichkeit war zum Teil noch grausamer", sagte Huy.

Bis heute warten die Menschen in Kambodscha vergeblich darauf, dass die Mörder von damals vor ein internationales Tribunal gestellt werden. Ob es jemals dazu kommen wird, ist mehr als fraglich. Was den Menschen in Kabodscha bleibt, ist der Trost des Buddhismus: "Pol Pot und seine Anhänger werden ernten, was sie gesät haben", ist Vann Nath überzeugt.(DER STANDARD, Print-Ausgabe, 15./16. 5. 2004)