Künstlerisch sublimierte Aggressionsabfuhr
"Und Jasper Johns, Robert Rauschenberg und all die berühmten Zeitgenossen schossen alle mit", meinte Baum weiters. Ulrich Krempel, Direktor des Sprengel Museums in Hannover, ergänzte: "Niki fand die Kunst als Mittel, 'um nicht verrückt zu werden', wie sie mir erzählte. Denn anfangs stand sie in ärztlicher Behandlung und erhielt Elektroschocks". Dem voran ging ihr gescheiterter Versuch, ein bürgerliches Leben mit Ehemann und zwei Kindern zu führen, doch nach ihrer Scheidung und Trennung auch von den Kindern lebte sie nur mehr für ihre Arbeit, unterstützt durch ihren zweiten Ehemann Jean Tinguely (1925 - 1991).
Die "Schießbilder" dienten hervorragend der künstlerisch sublimierten Aggressionsabfuhr, in dem de Saint Phalle Leinwandtafeln mit Farbbeuteln versah, die nach den Schüssen für spannende Kombinationen sorgten. So zählte sie mit diesen und anderen Materialbildern alsbald zu den "Nouveaux Réalistes" und nannte sich damals eine "Terroristin der Kunst". Im Grunde versuchte sie, sich von schrecklichen Kindheitserlebnissen zu befreien. "Ich schoss gegen Daddy, gegen alle Männer", meinte sie dazu. Aufzuarbeiten hatte sie einiges, vom sexuellen Missbrauch bis zu verlogenen bürgerlichen Moralvorstellungen.
Die "Nanas": Eine expansive Spezies
Noch vor dem offiziellen Feminismus brachte sie weibliche Formen ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Die "Nanas", kurvige Plastik-Matronen, mit denen die Künstlerin 1964 zum ersten Male von sich reden machte, stehen oder liegen fast überall: In Paris, New York, Brüssel, Genf, Tokio, Luzern, Amsterdam und Los Angeles. Für die große Halle des Moderna Museet in Stockholm schuf sie 1966 die "Größte Hure der Welt" - das liegende Überweib ist sechs Tonnen schwer und 27 Meter lang. Durch die "keineswegs geheime Öffnung" zwischen den Schenkeln strömen täglich rund 2.000 Besucher in ihr komfortables, mit Bar und Bibliothek ausgestattetes Inneres.
Im Sommer 2000 übereignete Niki de Saint Phalle dem Sprengel Museum in Hannover mehr als 300 ihrer Werke. Mit dem großzügigen Geschenk kehrte die Künstlerin gewissermaßen zu ihren Wurzeln zurück, denn 1969 hatte sie in Hannover eine ihrer ersten großen Ausstellungen.