Unglamourös und alltäglich schön: Maggie Cheung schenkt dem Publikum und ihrem Regisseur Olivier Assayas in "Clean" kostbare Kinomomente.

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Selten waren die Internationalen Filmfestspiele in Cannes in den letzten Jahren faszinierender als heuer: Glücksgefühle der besonderen Art bescherten zuletzt etwa die neuesten Arbeiten von Olivier Assayas ("Clean") und Jean-Luc Godard ("Notre Musique").


Diese 57. Filmfestspiele an der Côte d'Azur - sie sind eine wirklich denkwürdige Angelegenheit. Irgendwie hat man hinter all der obligaten plakativen Marktschreierei und Eventsucht und in dem ganzen Schlagzeilensalat und Bombast das Gefühl, als entwickle sich an den Rändern, also - so paradox das klingen mag - mitten in den Herzen vieler Filmemacher, eine neue Ruhe und Ernsthaftigkeit. Eine Kraft, die sich nicht in großen Gesten verschwendet, sondern vielmehr den kleinen Dingen die gebührende Sorgfalt angedeihen lässt.

Der Grundton des diesjährigen Wettbewerbs wird denn auch weniger von "fulminanten" Meisterwerken und "Meilensteinen" geprägt als von kostbaren Momenten des Innehaltens, in denen man den Bildern und Tönen quasi in Augenhöhe wieder vertrauen kann. Das ist auf angenehme Weise ernüchternd.

Kino, Arbeit, Liebe

Clean heißt zum Beispiel der neue Film des französischen Regisseurs Olivier Assayas, von dem es zuletzt schien, als hätte er sich selbst mit Ausflügen ins Kostümkino (Les destinées sentimentales) und etwas kruder Sciencefiction (Demonlover) ein wenig aus den Augen verloren. Was immer er gesucht haben mag: Mit Clean ist er wieder im heutigen Paris, bei einer Aufmerksamkeit und Liebe angelangt, die man zuletzt in seiner Arbeit vermisste.

Vielleicht liegt es an der Hauptdarstellerin Maggie Cheung, mit der er einst für Irma Vep (1996) zusammengearbeitet und dann auch einige Jahre zusammengelebt hat: In Clean spielt sie eine schon etwas in die Jahre und ziemlich aus der Form gekommene, drogenabhängige Popsängerin, die nach dem Tod ihres Lebensgefährten nur eine Chance sieht, ihr Kind wieder zu sehen: Sie muss herunter von Heroin und Methadon. Sie muss zu einer neuen Selbstachtung finden, die die Augen nicht verschließt vor vergangenen Fehlern.

Es geht um Würde in diesem Film, und so unglamourös und zugleich alltäglich schön, wie Cheung hier für Assayas einfach da ist, merkt man schnell: Diese Würde kann nicht von außen bewirkt werden wie ein neues Supermodel-Make-up, sondern sie muss von innen heraus entstehen - auch wenn das Gefäß, das Image, das gefüllt werden soll, erste Sprünge erhalten hat, durchlässig geworden ist, schäbig irgendwie, aber eben nicht so schäbig, wie wenn ein Hollywoodstar auf "fertig" und "beschädigt" macht. Und damit das Glück dieses Films komplett ist, schenkt er uns tatsächlich auch noch einen Hollywoodstar, der exakt diese Camouflage nicht bemühen muss: Nick Nolte.

Fragile Balance

Der spielt den Vater des Verstorbenen, oder wichtiger: den Großvater von Cheungs Kind, es ist Noltes erste wirkliche Altersrolle, die er da übernommen hat, und er findet dabei zu einer Milde, einer Zärtlichkeit, die rein gar nichts mit Sentimentalität, sondern einfach mit Klarheit und einem großen Herzen zu tun hat.

Ja, Klarheit, das ist es, was Clean vermittelt: eine absolute Einprägsamkeit jedes Moments, jedes Details, über der Olivier Assayas darauf verzichten kann, die in derartigen Geschichten oft angeschlagenen Versöhnlichkeiten auszuwalzen. Eher hält er an Unversöhnlichkeiten fest, verharrt da, wo Menschen (noch) nicht miteinander kommunizieren, aber insgesamt kommen die Dinge, fragil wie sie sind, zeitweilig doch wieder ins Lot.

Ebenfalls ein fast schon ungewohnt "deutlicher" Film ist Jean-Luc Godard - außer Konkurrenz - mit Notre Musique geglückt: Gewissermaßen der erste Film seit langem, in dem sich der Altmeister nicht von der Kanzel herab mit schwer verständlichen, lyrischen Fragmenten der Unruhe jede Diskussion unter Nichteingeweihten verbietet. Der erste Film vielleicht seit Nouvelle Vague (1990), in dem er sein Publikum wahrnimmt. Dann sieht man zwar manchmal Mumpitz (Indianer vor der Brücke in Mostar), aber dann wird - rund um ein Literatursymposion in Sarajewo - vieles doch sehr klar: "Es steckt mehr Inspiration und menschlicher Reichtum in der Niederlage als im Sieg."

Oder: "Homer weiß nichts von Schlachtfeldern, Massakern, Triumphen, Ruhm. Er ist blind, und das alles langweilt ihn." Wolfgang Petersen könnte sich das für seinen Troja-Film ins Stammbuch schreiben. Notre Musique ist voll von solchen Sätzen, die ähnlich zum Klingen kommen und zu "Hauptdarstellern" werden wie die Tonzuspielungen aus dem Haus ECM-Records: Musik von Jean Sibelius, David Darling, Arvo Pärt usw. Dass darüber hinaus kaum jemand das Handwerk des Filmemachens beherrscht wie Godard, ist vielleicht nicht neu. Hier lässt dieses souveräne Handwerk aber wieder so etwas wie Nähe zu.

Ein absolutes Highlight dieser Filmfestspiele war denn auch die Pressekonferenz, die Godard im Palais du Festival gab: Erstens stellte er einen nicht unwesentlichen Teil seiner Rede- und Sendezeit einem Sprecher der protestierenden Teilzeitarbeiter, der "Intermittents", zur Verfügung. Zweitens präsentierte er sich selbst einmal mehr als hellwachen, scharfsichtigen Beobachter gegenwärtiger Produktionshaltungen.

Böse EU-Fee

"Europa" und "europäisches Kino" zum Beispiel: In Cannes hatte man diesen Begriffen wieder einmal einen Ehrentag, präsentiert von der EU-Kommissarin Viviane Reding, gewidmet. Und wie auf jede Form der Propaganda reagierte Jean-Luc Godard auch auf diese mit bitterem Spott:

"Ich sehe Madame Reding mehr oder weniger wie eine böse blonde Fee: Was will sie? 'Europäische Filmemacher kreieren'? Ich finde das ein wenig irritierend. Wie soll man bitte einen 'europäischen Filmemacher kreieren'? Das erinnert mich an gewisse Diktaturen, in denen man einst Übermenschen erschaffen wollte. Oder an Frankenstein. Also, diese Dame ist wirklich eine Null."

Leider hat sich "diese Dame" nicht herabgelassen, Godard zu antworten. Und ausständig ist bis dato auch noch Michael Moores Reaktion auf Godards Einschätzung: "Ich denke, dass Moore unbewusst den US-Präsidenten mehr unterstützt, als dass er ihm schadet."

Rund um Michael Moores Fahrenheit 9/11 ist gegenwärtig jedenfalls an der Croisette wilde Hektik ausgebrochen. Zwar wird die Dokusatire weit gehend sehr gut besprochen. Andererseits hat der US-Filmemacher sehr plötzlich die PR-Agentur gewechselt und kurzerhand sämtliche bereits vereinbarte Interviews und Pressegespräche wieder abgesagt. Offenkundig sollen Verhandlungen mit potenziellen US-Verleihern nicht durch unbedachte Witze gefährdet werden: Immer noch wird in den USA ein Starttermin Anfang Juli angepeilt. (DER STANDARD, Printausgabe, 21.5.2004)