"Nichts ist mächtiger als eine Idee zur richtigen Zeit." Mit diesem Zitat von Victor Hugo umschrieb der indische Finanzminister Manmohan Singh in der ersten Hälfte der 90er-Jahre seine Reformpläne. Es waren viele und gute Ideen, welche Singh - er gehört der religiösen Minderheit der Sikhs an - unter seinem Markenzeichen, dem hellblauen Turban, versteckt hielt. Und: Er hatte die guten Ideen genau zur richtigen Zeit.

Als er 1992 vom damaligen Kongress-Premier Narasimha Rao ins Kabinett geholt wurde, stand Indien kurz vor dem Bankrott: Die Fremdwährungsreserven hätten gerade noch ausgereicht, um zwei Wochen lang die indischen Importe abzugelten.

Singh, der Ökonomie - unter anderem an der Universität Oxford - unterrichtet hatte und dann zum Gouverneur der indischen Staatsbank aufgestiegen war, reizte die Idee, etwas zu bewirken: "Ich sah eine geringe Chance, dass ich es vielleicht zu einer Fußnote in der indischen Geschichte bringen könnte", sagte der heute 72-jährige, weißbärtige Mann mit dem Gesichtsausdruck eines gütigen Opas.

Singh verschrieb der kränkelnden und während Jahrzehnten sozialistisch geführten indischen Wirtschaft weit reichende Reformen und schuf ein unternehmerfreundlicheres Klima. Die wirtschaftliche Erholung, von der vor allem die mittleren und oberen Schichten profitierten, setzte unheimlich schnell ein: Industrie und Dienstleistungssektor begannen aufzublühen.

Gleichzeitig gelang es Singh, die Inflation unter Kontrolle zu halten. Trotz dieser Erfolge wurde die Kongress-Regierung 1996 - nach Korruptionsskandalen, in die Singh allerdings nicht verwickelt war - abgewählt. Singh zog sich zurück, trat öffentlich kaum mehr in Erscheinung, war nur noch Mitglied des Oberhauses. In der internationalen Finanzwelt behielt der Name Manmohan Singh aber seinen guten Klang. Dass Singh - nach Sonia Gandhis Verzicht - erste Wahl für das Amt des Regierungschefs war, verwunderte nicht. Zum einen verbindet ihn eine lange Freundschaft mit der Gandhi-Familie. Er diente sowohl in Indira Gandhis Kabinett als später auch in jenem ihres Sohnes Rajiv als ökonomischer Berater. Und: Sonia Gandhi bezeichnete Singh als einen ihrer loyalsten Vertrauten. Der verschwiegene Wirtschaftsmagier hat versprochen, die Reformen weiterzuführen.

Allerdings will er jetzt früher Vergessenes nachholen: Diesmal sollen auch die Armen des Landes von seinen Reformen profitieren. Es erfülle ihn mit Schmerz, sagte der Premier, wenn er zum Beispiel das Elend der Bauern sehe. Darum versprach er, vermehrt in den Agrarsektor zu investieren. "Reformen ja, aber mit einem menschlichen Gesicht", soll zum Motto seiner Amtszeit werden. (Peter Isenegger, DER STANDARD, Print-Ausgabe vom 21.5.2004)