STANDARD:In Ihrer Rede bei der Verleihung des Kreisky-Preises am Montag sagten Sie, das wichtigste Problem der Menschheit im Moment sei nicht, wie manche behaupten, der Kampf gegen den Terrorismus, sondern die ungleich schwerere Aufgabe, möglichst vielen Menschen ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen.
Ryszard Kapuscinski: Wenn man behauptet, die wichtigste Aufgabe heute sei der Kampf gegen Terrorismus, dann ist das Manipulation. Eine Manipulation insofern, als es die Aufmerksamkeit ablenkt von dem wirklich wichtigsten Problem, mit dem wir uns heute konfrontiert sehen. Milliarden von Menschen fühlen sich durch den Terrorismus überhaupt nicht bedroht. Sie wissen überhaupt nicht, was Terrorismus ist. Aber sie wachen morgens auf und wissen nicht, was sie an diesem Tag essen sollen. Diese Menschen werden aber ausgeblendet. Man will sich nicht mit ihnen befassen . . .
STANDARD:. . . und ihre Probleme nicht lösen.
Kapuscinski: Die reiche Welt möchte die Frage der ungerechten Verteilung des Reichtums nicht lösen. Daher redet sie lieber über Terrorismus. Und die Manipulation wirkt. Die Menschen fragen heute ständig: "Was passiert im Irak?" Der Irak aber ist ein verhältnismäßig kleines Land. Und der Rest der Welt? Das interessiert momentan überhaupt niemanden. Unser Problem ist, dass 263 Menschen einen Reichtum besitzen, der ungefähr 43 Prozent des gesamten Vermögens der Welt ausmacht. Das sind die Verhältnisse, über die wir eigentlich reden sollten. Der Terrorismus ist hier ein Ablenkungsmanöver.
STANDARD:Worauf, denken Sie, sollte man den Fokus der Weltöffentlichkeit richten - jenseits von Irak und Nahem Osten?
Kapuscinski: Kein seriöser Kommentator kann Vermutungen darüber äußern, wie die Welt in zwanzig Jahren aussehen wird. Wir können nur beobachten, was heute passiert, und das analysieren. Doch es ist klar, dass eine der größten Veränderungen der gegenwärtigen Situation der Weltpolitik in dem Moment eintreten wird, wenn China sein Schweigen beendet.
Momentan schweigt China zum Terrorismus ebenso wie zum Irak. Es widmet sich seiner mit Höchstgeschwindigkeit vollzogenen Entwicklung. Doch in dem Moment, wo die Führer Chinas beschließen, offen Stellung zu beziehen, ist das eine Stimme, die auch die USA sehr, sehr ernst nehmen müssen. Das wird die Situation der internationalen Politik stark verändern. Bis dahin werden sich die Gewichtungen nur unerheblich verschieben. Konflikte, aber nichts substanziell neues.
STANDARD: "Kleinere" Veränderungen - wie nun die Erweiterung der Europäischen Union, die, geht es nach dem Wiener Kardinal Schönborn, vorerst eine christliche bleiben soll.
Kapuscinski: Er ist Kardinal. (lacht) Er muss das sagen, das ist sein Job. Auch ein Kardinal muss für sein Brot sorgen. Als ich letztes Jahr in Italien war, sagte dort ein anderer Kardinal, man müsse alle Muslime ausweisen. Zwei Millionen Menschen. Im Ernst: Wir leben im 21. Jahrhundert in einer Welt immenser Migrationsbewegungen, immenser demografischer Veränderungen. Da ist es unmöglich, eine einzige Identität für einen ganzen Kontinent zu schaffen.
Europa will seine Stärke erhalten. Aber seine Bevölkerung ist alt, ein Drittel der europäischen Bevölkerung ist über 60. Um eine dynamische Industrie weiterzuentwickeln, muss man also junge Arbeitskraft importieren. Und dafür gibt es momentan vor allem eine Quelle: Nordafrika. Und Nordafrika ist muslimisch. Europa muss sich also entscheiden: Entweder es ist christlich - oder es ist stark.
Die neuen Europäer werden in der Mehrzahl nichteuropäischen Ursprungs sein.
STANDARD:Im Oktober erscheint in Polen Ihr neues Buch "Reisen mit Herodot". Eine Rückkehr zu den Anfängen der europäischen Geschichtsschreibung?
Kapuscinski: Herodot war der erste Reporter, der Erfinder der Reportage - er reiste, sprach mit den Menschen, erfuhr ihre Geschichten und schrieb sie auf. Er schrieb das erste Reportagebuch der Weltliteratur. Das war vor 2500 Jahren. Und seither hat sich das Genre nicht geändert.
In meinem Buch verschränke ich die beiden narrativen Ebenen: Passagen von mir, von meinen Reisen nach Asien und Afrika, wechseln ab mit Passagen aus dem Werk Herodots. Tatsächlich reiste ich auf meinen ersten Reisen immer mit Herodot im Gepäck. Und eine der Grundfragen, die dem Buch zugrunde liegen - ich war mir dessen im Schreiben selbst nicht bewusst -, ist die Frage nach der Existenz des Fortschritts. Und es zeigt sich, dass der Fortschritt in ethischer Hinsicht nicht existiert. Dieselbe Grausamkeit, derselbe Hass, dieselben Folterqualen wie vor 2500 Jahren.
Fortschritt ist eine Frage der Technik. Der Mensch ist noch immer derselbe wie vor tausend Jahren.
STANDARD:Und für das nächste Jahr planen Sie bereits ein weiteres Buch - über Europa.
Kapuscinski: Es soll Ein anderes Europa heißen. Ein Europa der Minderheiten, der Wildnis, jenseits der Metropolen Paris, London, Wien. Wenn Menschen heute von Europa reden, meinen sie die EU und all ihre politischen, bürokratischen Probleme.
Aber vor einiger Zeit war ich zum Beispiel in Wales, bei einem Freund. Es gab da nichts. Keine Straße, keinen Menschen. Nur eine Herde wilder Pferde. Das war wie eine asiatische Steppe, wie im Land der Skythen. Aber es war Europa. Heute.
STANDARD:In einem Ihrer Bücher steht ein Satz, den man als eine Art Urmotiv Ihres Schreibens lesen kann. "Ich bin Detektiv einer positiv verstandenen Fremdheit, mit der ich in Berührung kommen möchte, um sie zu verstehen." - Ist das eine Gegenphilosophie zur Scheu vor dem Fremden?
Kapuscinski: 500 Jahre lang war die Welt dominiert von der europäischen Kultur, der Kultur der Kolonialherren. Nun wurden die einst kolonialisierten Länder nach und nach unabhängig. Und jetzt sind sie stolz auf ihre eigene Kultur, wollen in ihrer eigenen Identität respektiert werden. Der einzige Weg zu einer friedlichen Zukunft ist also, sich zu öffnen für die Vielzahl der fremden Kulturen. Vor allem wir Europäer müssen verstehen, dass wir nicht länger die Grundbesitzer des Planeten sind.